Im Oktober 2015 ist Amir aus Afghanistan geflohen, mittlerweile lebt er in Leinfelden-Echterdingen. Was er und andere Flüchtlinge erlebt haben, davon erzählen sie in einem Film, der 30. September im Gemeindezentrum West in Echterdingen zu sehen ist.

Leinfelden-Echterdingen - Amir schaut mit großen Augen in die Kameralinse. Kein Problem, dass das Zoom-Meeting abends stattfindet, „Wir essen sowieso spät!“, sagt er und meint die arabische Essenskultur. Er lacht viel, wirkt heiter und froh. Eigentlich ein Wunder, möchte man meinen, bei der Flucht- und Duldungsgeschichte, die der 32-jährige Afghane hinter sich hat. Amir ist nicht sein richtiger Name. Er befürchtet bei einer eventuellen Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seiner Kooperation mit den Alliierten, verhaftet zu werden. Deshalb möchte er anonym bleiben. Im Oktober 2015 ist Amir allein im Alter von 26 Jahren aus Afghanistan geflüchtet. Seine Eltern waren gestorben, und seine Geschwister empfanden sich nicht als gefährdet. Im Gegensatz zu ihm, denn er arbeitete bei einer amerikanischen Firma. Anderthalb Monate sei er über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich nach Deutschland unterwegs gewesen.

 

Es sind kurze Szenen, die er erzählt und die einen Eindruck von der Tragik seiner Geschichte geben. Eine seiner Erinnerungen handelt von einem Kurzaufenthalt an einem Bahnhof in Kroatien. Keine Überdachung, Winterfrost, Säuglinge auf der Flucht, Kleidungs- und Deckensuche für Frauen und Kinder. Drei Nächte hätten sie auf den Schienen schlafen müssen. In Deutschland kam er zunächst in Frankfurt an, wo große Flüchtlingszüge in andere Städte weitergeleitet wurden.

Zwei Asylanträge werden abgelehnt

Seine Flucht erzählt er in großen Zahlen. In Karlsruhe hätten mehrere Tausend Menschen zwei Tage in einer Schlange stehen müssen. Im Flüchtlingslager in Mannheim seien 20 verschiedene Sprachen gesprochen worden. Verstanden hätten sie sich schwer. Am 5. Dezember habe er Leinfelden-Echterdingen erreicht. „Niemand will so eine Fluchterfahrung machen.“ Er atmet durch und wendet sich ab. „Wir mussten sie machen. Und wir sind froh, dass wir unser Leben wiederbekommen haben.“ Sie seien traurig gewesen, fügt er hinzu. Meistens spricht er von „wir“, selten von „ich“. Ein Kollektiv, ein Geflüchtetenkollektiv, mit dem er Ähnliches erlebt hat und dem er sich verbunden fühlt, so hört es sich an.

In Deutschland beantragte er zwei Mal Asyl. Beide Anträge wurden abgelehnt. Er habe keine Nacht in Ruhe geschlafen. Kontakt zu seinem Bruder, der in einer afghanischen Stadt wohnt, habe er ein- bis zweimal pro Woche. Der andere, auf dem Land wohnende Bruder sei nur einmal pro Monat erreichbar. „Die ersten fünf Jahre in Deutschland waren die schwierigste Zeit“, berichtet der 32-Jährige. „Ich hatte Angst, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Das wäre nach meiner Flucht gefährlicher gewesen als vorher“, meint Amir.

Studium wird nicht anerkannt

Erschwert wurde seine Ankunft durch die Nichtanerkennung seines afghanischen Ingenieurstudiums. Deshalb entschied er sich für eine dreijährige Ausbildung in diesem Bereich. „Ich habe über 50 Bewerbungen verschickt. Aber niemand konnte einem Ausländer vertrauen“, so Amir. Ein kleines Architektenbüro stellte ihn zunächst befristet ein und bot ihm dann eine Ausbildungsstelle an. Im August 2020 hatte er diese abgeschlossen. Von einem Stuttgarter Architektenbüro wurde er infolgedessen übernommen. „Aus dem 300-köpfigen Flüchtlingscamp in Leinfelden hat keiner eine so gute Arbeit, wie ich“, meint Amir. Er wirkt dankbar. Seit zwei Wochen hat er eine Aufenthaltsgenehmigung. Momentan wohne er in der 60 Quadratmeter-Wohnung einer Familie, die er am ersten Tag seiner Ankunft in Deutschland kennengelernt habe. „Jetzt habe ich ein bisschen frische Luft“, sagt Amir sechs Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland.

Er erzählt von seinen Kollegen auf der Arbeit und der Erfahrung, für die Stadt Leinfelden-Echterdingen zu dolmetschen. Er habe Abendseminare belegt und in Kooperation mit dem Arbeitskreis Asyl eine 30-seitige Broschüre mit arabisch/deutschem Basisvokabular geschrieben. Insofern verwundert es nicht, dass Amir die Vorstellung des Films „Wir sind da“ begleiten möchte. Ein Film über Geflüchtete, die ihre Flucht- und Ankommenserfahrungen erzählen. Gedreht wurde der Film von Niklas Schenck und Ronja von Wurmb-Seibel. Ihre persönliche Erfahrung einer Pflegeelternschaft eines 16-jährigen Afghanen habe sie dazu inspiriert.

Einblick in das Seelenleben

Im Laufe dieser fünf Jahre Integration hätten sie festgestellt, dass eine große Diskrepanz zwischen dem medial vermittelten Bild und ihren eigenen Erfahrungen bestehe. Beispielsweise bildeten sich die Höhen und Tiefen der Integration nicht in den Medien ab. „Wir wollten die Menschen pur, ohne szenisches Material abbilden.“ Das alles lenke ab, um persönlich, Auge in Auge, in Kontakt zu kommen. Schenck: „Die sieben Menschen haben uns in ihr Innenleben reingelassen. Wir haben uns von den intimen Gesprächen sehr beschenkt gefühlt.“

Aufführung

Termin
Die Film „Wir sind hier“ ist am Donnerstag, 30. September, von 19 Uhr an im Gemeindezentrum West in Echterdingen zu sehen, veranstaltet in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem AK-Asyl Leinfelden-Echterdingen. Anschließend werden ein Verantwortlicher der Stadt L.-E., die beiden Filmemacher Niklas Schenck und Ronja von Wurmb-Seibel sowie Geflüchtete miteinander diskutieren.