Der Stuttgarter Sinto Peter Reinhardt erzählt als Zeitzeuge in einem Film von seinem Leben als Nachkomme der Überlebenden des NS-Terrors und von nie endender Diskriminierung.

Man könnte ihm stundenlang zuhören. Wenn Peter Reinhardt aus seinem Leben berichtet, machen Geschichten von nie endender Diskriminierung und Ausgrenzung, aber auch stolzer Selbstbehauptung betroffen. Als ein Lehrbeispiel von Oral History (mündlicher Geschichtsüberlieferung), wie sie eindrucksvoller nicht sein könnte: authentisch, direkt, ungeschönt und doppelt berührend, weil sich der Erzähler Emotionen erlaubt. Peter Reinhardt, 1951 in Stuttgart geboren, ist ein Sinto. Und als Zeitzeuge der Protagonist des Dokumentarfilms „Erinnert – Geschichten der Stuttgarter Sinti und Roma“, den der Stuttgarter Filmemacher Uwe Kassai gedreht hat und der am Sonntag, 10. April, um 11 Uhr im Lern- und Gedenkort Hotel Silber vorgestellt wird.

 

Viel erzählt haben sie nie vom Lager, wo ihnen die Würde genommen wurde

200 000 bis 500 000 Sinti und Roma wurden in den Konzentrationslagern des NS-Terrorstaats ermordet, darunter auch Onkel und Tanten von Peter Reinhardt. Aufgewachsen ist er unter Überlebenden: „Sie haben nicht viel erzählt vom Lager, sie wollten diese Zeit, die ihnen die Würde genommen hat, auslöschen und vergessen“, sagt er. Aber manche Geschichten hörte er doch: vom Vater, der genau hier, im Hotel Silber, dem ehemaligen Sitz der Polizei und der Gestapo, vom „Sachbearbeiter für Zigeunerfragen“ Adolf Scheufele regelmäßig bedrängt wurde, sich sterilisieren zu lassen. Der Vater widerstand, sein Chef in der Munitionsfabrik verhinderte die Deportation. Und Scheufele, nach dem Krieg wieder im Polizeidienst, erlebte die Wut der Sinti-Frauen: eine Ohrfeige von der Mutter eines Freundes und die Beschimpfung „Nazischwein“ von Peter Reinhardts Mutter.

Heulend hat sich die Schwester die Knie blutig geschrubbt

Zwei Tage lang folgte Uwe Kassai mit der Kamera Peter Reinhardt auf den Spuren seines Lebens in Feuerbach. Zum Kelterplatz, in die Keltersiedlung, die wegen ihrer Sinti- und Roma-Bewohner als „Zigeunerinsel“ verschrien war, und in die Hohensteinschule, wo Peter, sein Bruder und seine Schwester von den Lehrern gedemütigt wurden. Heulend habe sich seine Schwester die Knie blutig geschrubbt, nachdem die Lehrerin sie wegen der dunkleren Hautfarbe als schmutzig beschimpft habe. Denn die Diskriminierung habe nie aufgehört und gehe bis heute weiter. „Aber das will heute niemand mehr wissen“, sagt er. Die ehemaligen Mitschüler hätten empört protestiert: Das stimme überhaupt nicht.

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Mehr als zehn Stunden Filmmaterial harrten seit dem Spaziergang im Jahr 2008 der Verarbeitung. Bis Harald Stingele von der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber nachbohrte: „Was macht der Film?“ Und Kassai machte sich ans Werk. Entstanden ist ein 110-Minuten-Film, der in zwölf Kapiteln mit Titeln wie „Die Aussonderung“, „Wir Schmuddelkinder“, „Mein Vater“ oder „Was bleibt“ eine kaum bekannte Seite der Stuttgarter Stadtgeschichte dem Vergessen entreißt. Die Kapitel können einzeln aufgerufen werden, dazwischen liefern Informationen Fakten, und ein Glossar, erarbeitet von Inge Möller und Elke Martin, erklärt alle Namen und Begriffe. Damit ist der Film ideal für Schulen. Nach der Matinee im Hotel Silber ist der Film kostenlos verfügbar im Netz unter der Adresse www.erinnert.org.

Angekommen in der Gesellschaft fühlt er sich nie

Peter Reinhardt wohnt bis heute im Kelterviertel, war erfolgreicher Geschäftsmann, hat zwei Kinder und drei Enkel und ist im Vorstand eines Angelvereins. Ein Stuttgarter Sinto, zu dessen Identität die eigene Sprache, Romanes, genauso gehört wie das Schwäbisch schwätzen. „Ich möchte nichts von meinem Leben missen“, versichert er. Angekommen in der Mitte der Gesellschaft fühlte er sich trotzdem nie. Und dass gerade Sinti-Flüchtlingen aus der Ukraine auf dem Mannheimer Bahnhof eine Bleibe verwehrt wurde, macht ihn richtig wütend: „Diese Diskriminierung hört nie auf.“

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Die Verfolgung von Sinti und Roma ist auch Thema des Films „Das Lager am Rande der Stadt“, den Sinti-Jugendliche aus Ravensburg gedreht haben. Er wird im Hotel Silber am Freitag, 8. April, um 15 Uhr gezeigt. Anschließend findet zum Roma-Tag um 17.30 Uhr am Mahnmal am Karlsplatz für die Opfer des Nationalsozialismus eine Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung statt.