Wenn es nach dem Fachpublikum geht, steht der Gewinner der Goldenen Palme des 67. Festivals von Cannes bereits fest – Ansonsten gibt es Miniskandale auf dem roten Teppich.

Cannes - Wenn es nach dem Fachpublikum geht, steht der Gewinner der Goldenen Palme des 67. Festivals von Cannes bereits fest: „Kısş Uykusu – Winter Sleep“ von Nuri Bilge Ceylan. Gut zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung stellten sich die Zuschauer vor dem Gala-Kino Grand Théâtre Lumière an, um die neue Regiearbeit des türkischen Autorenfilmers zu sehen. Denn Bilge Ceylan ist der längst nicht mehr geheime Favorit des Wettbewerbs von Cannes; schon vor Beginn dieses Festivals wurde sein Name bei den Buchmachern hoch gehandelt, gleich nach dem des Briten Mike Leigh. Nuri Bilge Ceylan hat an der Croisette bereits den Preis für die Beste Regie und den Großen Preis der Jury erhalten. Nicht wenige Leute meinen, dass er endlich mal dran sei in Sachen Goldene Palme.

 

„Winter Sleep“ erzählt nun von Menschen im ländlichen Kappadokien, deren Leben geradezu lähmend stagniert. Istanbul als Sehnsuchtsort wird von ihnen immer wieder benannt, aber nie erreicht. Wer sich dabei an die Dramen des Russen Anton Tschechow erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch.

Im Mittelpunkt des Films steht Herr Aydin, ein früherer Schauspieler, nun reicher Hotelbesitzer und Vermieter diverser Häuser im Ort, der belehrende Kolumnen für die Regionalzeitung „Stimme der Steppe“ schreibt und ein Buch über die Geschichte des türkischen Theaters plant. Er hält seine geschiedene Schwester aus und ist mit einer viel zu jungen Frau verheiratet, die eine Aufgabe gefunden hat, indem sie sich für die Instandsetzung der Schulen engagiert. Zunächst erscheint dieser Aydin freundlich, wohlmeinend, aufgeklärt und kultiviert, doch im Verlauf der dreieinhalbstündigen Laufzeit des Films offenbart sich zunehmend, dass er die Menschen um sich herum mit Macht klein zu halten sucht und ohne Skrupel demütigt, wenn er seine Position als Patriarch nicht respektiert sieht.

Das stille Drama zweier abhängiger Frauen

„Winter Sleep“ fokussiert sich vornehmlich in dämmerigen und abendlichen Innenräumen auf Gespräche über das Leben, die Welt sowie den Sinn oder Unsinn von Widerstand und Wohltätigkeit. Manchmal fehlen die großen Kinobilder, die Nuri Bilge Ceylan so wundervoll schaffen kann. Doch in den großartigen Dialogen und im preiswürdigen Spiel der Darsteller Haluk Bilginer als Aydin, Demet Akbag als Schwester und Melisa Sözen als Ehefrau entfaltet sich das absolut fesselnde Porträt eines letztlich selbstgefälligen Zynikers – und das stille Drama zweier abhängiger Frauen, die Aydin bewusst scheitern lässt.

Nuri Bilge Ceylan und seine Schauspieler trugen bei der Gala in Cannes schwarze Schleifen zum Gedenken an die Toten des türkischen Bergwerkunglücks. Tatsächlich könnte es sein, dass Cannes mit „Winter Sleep“ bereits den Gewinner der Goldenen Palme gesehen hat. Auch wenn Tommy Lee Jones in seinem im Wettbewerb laufenden Western „The Homesman“ das Genre eindrucksvoll belebt mit einem im Kino nicht eben häufig gestalteten Aspekt. Es geht in der Romanverfilmung unter anderem um Frauen, die irre wurden am harten Leben in der Prärie, der hohen Kindersterblichkeit und dem Missbrauch durch die Männer.

Mit Zärtlichkeit behandelt der Regisseur seine Figuren

Hilary Swank spielt Mary Bee Cuddy, eine beherzte, umsichtige und mitfühlende Farmersfrau, die drei solcher psychisch erkrankter Frauen aus den Weiten von Nebraska zurückholen will in die Zivilisation, wo für sie gesorgt werden soll. Cuddy tut sich aus Not mit einem alten Gnatz (Tommy Lee Jones selbst) zusammen, den sie vor dem Strang rettet, denn allein kann sie die teils katatonischen, teils aggressiven Kranken nicht versorgen und bändigen.

Die lange Reise dieser Fünfergemeinschaft eröffnet Raum für viele Zwischentöne, etwa wenn Cuddy, die fest daran glaubt, dass alle Menschen von Gott geliebt werden, irgendwann das Leiden der Kranken nicht mehr erträgt und auch nicht die eigene Einsamkeit – sie ist unverheiratet und wurde mehrfach abgewiesen. Der unerwartete Schock, den diese – nach „Three Burials“ – zweite Kino-Regiearbeit von Tommy Lee Jones für den Zuschauer bereit hält, ist ebenso groß wie die Zärtlichkeit, mit der Lee Jones seine Figuren und die Pionier-Mythen seiner Heimat behandelt.

War das ein präzise geplanter PR-Gag des Studios?

Was brachte Cannes noch am Wochenende? Bertrand Bonellos Wettbewerbsfilm „Saint Laurent“ befasst sich ausgiebig mit den dunklen Seiten des legendären Modeschöpfers, mit dessen Medikamentensucht, Drogen, Alkoholismus, den Orgien; er vermittelt aber auch dessen Hypersensibilität: Hier erscheint YSL als ein Mensch, der wohl von Beginn an verloren war für die Welt. Auch das ist natürlich ein Spiel mit dem Mythos, das indes von Pierre Bergé, dem Lebensgefährten von Yves Saint Laurent nicht autorisiert wurde. Umso spannender! Und dann: Alarm auf dem roten Teppich am Palais de Festival. Vor der Premiere des Animationsfilms „Drachenzähmen leicht gemacht 2” stürmte ein Mann den roten Teppich und krabbelte unter die weite, weiße Robe der Sprecherin America Ferrera. Was nur ein präzise geplanter PR-Gag des Studios DreamWorks sein konnte, denn wer je erlebt hat, wie effizient und offensiv die Sicherheitskräfte des Festivals gegen Störenfriede oder auch nur lästige Fragesteller vorgehen, glaubt hier nicht an Zufall. Schon Tage zuvor spazierten Leute mit Wikingerhüten über die Croisette, was Rätsel hinterließ im Beobachter. Wer kommt schon auf so viel Werbung für die Fortsetzung einer mittelmäßigen Animationsproduktion? Immerhin ist dies das wichtigste Filmfestival der Welt.