Beim Filmfestival in Cannes hat Michael Hanekes Film „Amour“ Palmengold errungen – ein Film, der den Betrachter an die eigene Sterblichkeit erinnert, die nichts ist als unser aller Sterblichkeit.

Cannes - Man könne nachweisen, hat der Nobelpreispsychologe Daniel Kahnemann neulich der „Welt“ erklärt, „dass alles, was die Menschen an ihre Sterblichkeit erinnert, sie gehorsamer macht“. Jetzt vergab die Jury in Cannes ihre Goldene Palme, und sie gehorsamte sehr. Denn stärker als jeder andere Film erinnert Michael Hanekes „Amour“ den Betrachter an die eigene Sterblichkeit, die nichts ist als unser aller Sterblichkeit. Was es heißt, dem Geliebten fortzuhelfen „bis in den Tod“, schildert Haneke so distanziert, so präzise und dennoch empathisch-behutsam, dass die Lektion im Gedächtnis bleibt. Ein kühler, leiser Film – und der bewegendste von allen im Wettbewerb.

 

Es gab Journalisten in Cannes, die glaubten zu wissen, dass der österreichische Regisseur nie und nimmer den Hauptpreis davontragen könne, so wie vor drei Jahren, als er mit seinem schwarz-weißen Sittendrama „Das weiße Band“ Palmengold gewann; denn ein wichtiger Mann sei dagegen: Nanni Moretti, der Jurypräsident. Schon 1997, als Haneke mit „Funny Games“ an der Croisette Furore machte, sei Moretti der Einzige gewesen, dem diese Games derart zuwider waren, dass er ihnen keinerlei Vergoldung gönnte.

Albernes Gesellschaftssatirchen

Mag sein, mochte ja sein. Aber zwischen „Funny Games“ und „Amour“ liegen Welten. So grausam der erste Film, so berührend der zweite: hie bestialisches Quälen, da die liebend getreue Fürsorglichkeit eines gebrechlichen alten Manns, der ein vom Hirnschlag gelähmtes Weib pflegt. Solche Geschichten rühren auch einen Moretti. Als er die Jurymitglieder auf Haneke einschwor, übte er also seinerseits nur Gehorsam – gegen sein schlechtes Gewissen.

Wie sich bei der Preisverleihung zeigte, hat die Jury ihrem italienischen Oberhaupt nur zu sehr gehorcht. Dass sie Matteo Garrone (einem Italiener!) den Großen Preis der Jury zuerkannte für ein albernes Big-Brother-Gesellschaftssatirchen, spricht ja Bände. Ohnehin verkehrte das Festival geradezu inzüchtig „en famille“, die Regisseure waren überwiegend wohlbekannte Alte. Auch Garrone gehört mittlerweile zum Zirkel der Alten, exakt solch einen Regiepreis hatte er schon anno 2008 erhalten, damals mit erheblich größerer Berechtigung für „Gomorrha“. Ein Glück nur, dass sein Hauptdarsteller jetzt (Aniello Arena) den grinsenden Fischhändler im Big-Brother-Wahn derart belanglos mimt, dass er für eine Darstellerpalme nicht infrage kam. Andernfalls hätte aus dem Verleihungszeremoniell leicht ein Debakel werden können. Denn Arena sitzt zurzeit im Gefängnis.

Leider prämierte die Jury aber weder Marion Cotillard (zu sehen als beinamputierte Orca-Trainerin im Film des Franzosen Jacques Audiard: „De Rouille et d’os“) noch zeichnete sie die fünfundachtzigjährige Emmanuelle Riva aus, die gemeinsam mit Jean-Louis Trintignant Hanekes Liebes-Film so ergreifend beseelt und durchleidet. Überhaupt schien es, als wollte die Jury Frankreich geradezu schneiden – ein Gastland, das immerhin Resnais, Audiard und den wirren, aber hochingeniösen Filmpoeten Carax aufgeboten hatte, womit es im Wettbewerb fast ebenso stark repräsentiert war wie die USA samt ihren komplett leer ausgehenden Regisseuren Anderson, Hillcoat, Dominik, Daniels, Nichols.

Liebster Kinderschänder aller Zeiten

Kurzum, die Darstellerpreise wirken sonderbar verrutscht, als sollten sie kleine Entgelte sein, weil man andere, größere Würdigungen dann doch nicht wagte. Der Däne Thomas Vinterberg mit seinem Lynchjustizdrama „Jagd“, wie viel war er der Jury wert? Sie zögerte – und gab Mads Mikkelsen den Darstellerpreis, dafür, dass er hochsympathisch und vollendet unverdächtig durch Vinterbergs Film hetzt als liebster Kinderschänder aller Zeiten. So schafft man Verlegenheitspreise, statt dem großen Trintignant die Ehre zu erweisen. Doch die Verdrückung geht weiter: Von der langwierig-lastenden Exorzismustragödie im orthodoxen Kloster „Beyond the Hills“, wo zwei Frauen nicht zusammenkommen können, weil weder dem Priester noch Gott solche Lesbenliebe gefällig ist, hatten die meisten Festivalgäste gedacht, dies sei neben Hanekes „Amour“ der nächste große Favorit. So stand’s in sämtlichen Blättern. Aber auch Cristian Mungiu, der rumänische Regisseur, ist in Cannes ein guter Bekannter. Noch vor fünf Jahren gewann er hier Palmengold mit einem Abtreibungsdrama, wieder ging es um Mädchenfreundschaft. Man sieht: der Mann perseveriert.

Und was macht die Jury? Sie gehorsamt und stiftet Verlegenheitspreise „ex aequo“ für Cosmina Stratan und Cristina Flutur, die zwei frommen Nonnen in ihrer Liebespein, und wirft noch eine Palme fürs beste Drehbuch hinterher. Spätestens dieser Drehbuchpreis ist ein Witz.

Sagten wir schon, dass auch der Brite Ken Loach ein Dauergast ist in Cannes, ein braver nimmermüder Wiedergänger, der dreimal ausgezeichnet worden ist, zuletzt mit Gold für das Freiheitskampfdrama „The Wind that Shakes the Barley“? Jetzt hat Loach wieder einen Preis bezogen, diesmal den „Preis der Jury“ für das ruppig-flotte Whiskey-Abzapfermärchen „The Angels’ Share“. Warum, wieso, wie kam’s? Vielleicht lag es nur daran, dass es bei Loach – endlich mal wieder – lustig zuging.

Es fehlte an Fantasie und Innovationskraft

Denn dieses Element fehlte dem Festival, genau wie die überschäumende Fantasie, die Innovationskraft, die Lust, Verqueres, Neues, Niegesehenes zu wagen. Beim Mexikaner Carlos Reygades war die Aufbruchslust immerhin spürbar, insofern erhielt sein Film „Post tenebras lux“ („Nach der Finsternis das Licht“) zu Recht einen Preis – unvergesslich das kleine Mädchen im regennassen Wiesenland, die häusliche Digitalteufelei, die fleischwarme Drastik in der Swingersauna, nur: was sollte das alles? Eher hätte den Preis für die beste Regie ein anderer verdient, Leos Carax, der verrückte Monomane, der über alle Grenzen der cineastischen Künste hinwegzutanzen versucht.

Aber Carax ist Franzose. Und ach, Morettis Jury hat den Franzosen diesmal nur Tort angetan, so sehr, dass einem die sonst so selbstbewusste Nation fast wieder leidtat. Man bemitleidete sie wie die weiblichen Regisseure, denen der Zutritt in Cannes verwehrt blieb, als wären sie Deutsche. „Eine Jury ist wie Mayonnaise; entweder sie geht auf – oder eben nicht“, erklärte der Festivalpräsident Gilles Jacob. Diesmal, 2012 ist die Mayonnaise gleich nach der Haneke-Würdigung aus lauter Gehorsam geronnen.