Das Filmfestival steht vor dem Abschluss. Mehr denn je gilt dabei ein strenger Dresscode: französisches Savoir vivre will ergründet sein.
Cannes - Was ist Cannes? Ein Filmfest, das die Franzosen ungeniert zur Selbstdarstellung nutzen, anders als Dieter Kosslicks souveränere Berlinale. Augenzeuge Bernd Neumann, der deutsche Staatsminister für Kultur, räumt konziliant ein (oder um zu gleicher Ungeniertheit anzuhalten?), dass die Auswahl der Cannes-Konkurrenten in diesem Jahr "ja nachvollziehbar egoistisch französisch" gewesen sei. Bitte, kein Nachvollziehen in Berlin! Aber den Franzosen half ihr Übergewicht im Wettbewerb - vier eigene Filme gegen sechzehn vom Rest der Welt - wenig.
Nein, es half gar nichts. Wäre nicht Michel Hazanavicius gewesen mit seinem schwarzweißen Hollywoodspiel "The Artist", worin ein Stummfilmstar, ein grandseigneuraler Herzensbrecher mit Hündchen, den Anschluss an die Tonfilmzukunft zu verpassen droht. "The Artist" ist hübsch frühkinematographisch pointiert in Szene gesetzt, tänzerisch virtuos, herrlich verschnulzt, schleppt allerdings mit seinem Schmachten ein wenig lange dahin. Jean Dujardin und Bérénice Béjo: ein Tanzpaar, so kess, so flott, so sprühend charmant, wie man es seit Hollywoods tonlosen Steptänzertagen nicht mehr gesehen hat.
Mit Sandalen über den roten Teppich
Dem Minister Neumann ist in Cannes der Dienstwagen gestohlen worden, vermutlich ein geleastes Fahrzeug, andernfalls hätte er die deutsch-französische Kooperation gedämpfter gepriesen beim Pressegespräch hinterher auf der Arte-Yacht. Unsereinem kam in derselben Zeit eine Filmvorführung abhanden, weil die Ordner an den Absperrgittern Frevelhaftes bemerkten: Mit Sandalen übern roten Teppich, "impossible, monsieur!" Am Morgen waren wir mit denselben Sandalen über denselben Teppich gelaufen, unangefochten. Jetzt knallte die Nachmittagssonne auf die Menge herab, die schwitzend gegen die Einlass-Zerberusse drängte, und ei: Freizeitkleidung durfte passieren, egal wie scheußlich - nur um Himmelswillen kein lockeres Herrenschuhwerk, keine Sandalen. Französisches Savoir vivre will ergründet sein.
Ob's draußen oder drinnen erlesener zugeht, das ist die Frage, die sich bei jedem Cannes-Besuch neu stellt. Dabei beginnt die Vermengung schon draußen-drunten, wo die kilometerlange Flucht der Absperrgitter das Volk teils zu gaffendem Verharren, teils zu gehetzten Schweinsgaloppaden nötigt, bis Shirt- und Smoking-Existenzen sowieso zusammenklumpen. Auch droben-drinnen im Palais des Festivals führt die Leinwand Ordinäres und Exquisites unaufhörlich zusammen, in pupillenreizender Zwölftageballung. Einen japanischen Harakiri-Film, dessen leibdurchbohrende Samuraischwerter besonders plastisch ins Augenmerk drangen, erlebten wir mit der 3D-Brille auf der Nase - das Blut kam dadurch dunkelbräunlich rüber, die Zukunft des Kinos wünscht man sich heller.
Sexuelle Entwürdigung, Kindsmissbrauch, elterliches Versagen
Doch täuscht es, oder hätte die Drastik bereits ihren Höhepunkt überschritten? Zwar gelangten auffällig viele Filme mit sexualpathologischem Bezug in den Wettbewerb (in Bertrand Bonellos champagnergetränktem Bordellsittengemälde aus dem Fin de Siècle weint eine Insassin zerschnittenen Mundes spermadicke Zähren), und wenn es denn überhaupt einen thematischen Schwerpunkt gab, dann war's genau dieser: sexuelle Entwürdigung, Kindsmissbrauch, elterliches Versagen.
Gleichzeitig scheint sie dann doch ununterdrückbar, die Lust, die sonnigen Seiten des Lebens zu feiern, das Gute im Menschen nicht zu verstecken. Sowohl Aki Kaurismäkis lieber alter Schuhputzer (im Film "Le Havre") wie der nette Lausejunge der Brüder Dardenne (im Film "The Kid With a Bike") sind Geschöpfe, die ihr Publikum im Sturm erobern; und beide haben Palmenchancen, da Robert De Niro und dessen Juroren ja keine Unmenschen sind. Allenfalls lässt sich die Jury - im Wortsinn - von Größerem blenden, von Terrence Malicks kosmisch illuminierter Hymne aufs Dasein, welche zugleich ein Requiem auf eine schwierig-schöne Kindheit ist (" Tree of Life").
Melancholie hat mit Sehnsucht zu tun
Apropos Weltall, universalsymphonisch dröhnt auch "Melancholia", das neue Filmwerk, mit dem sich der Däne Lars von Trier nach Cannes gewagt hat: desaströs auf den ersten Blick, doch auf den zweiten gezeugt aus hochdepressiver Weltuntergangslust. Im Golfschloss sieht Justine, eine teiggesichtige Schöne (Kirsten Dunst), zunehmend verstört ihrer luxuriösen Hochzeitsfeier entgegen, während am Firmament ein Planet erscheint, welcher die Erde zerstören wird. Claire, die sensible ältere Schwester (Charlotte Gainsbourg), verschließt davor zitternd die Augen, Justine hingegen sehnt somnambul erschlafft den großen Knall herbei, pinkelt nachts auf dem Golfplatz ins Grün und entwindet sich bettnässerisch ihrem frustrierten Bräutigam, um im Bunkersand das nächstbeste Familienmitglied zu besteigen.
"Ich denke, Justine, das bin haargenau ich", erklärt von Trier im Presseheft, welches er mit einem Trauerrand versehen ließ. Auf der Journalistenkonferenz in Cannes, die er seltsam entspannt gelächterstiftend absolviert, wiederholt der bullige Neurotiker sein Befremden angesichts des fertigen Films: Was, "Melancholia", ein Werk von ihm? "Ich hoffe nicht." Außerdem bedauert er, dass keine Masturbationsszenen drin sind, und verspricht: "Der nächste Film wird ein Porno sein." Folgt noch die Beteuerung, er sei ein Nazi, verstehe Hitler, liebe Speer - so bekommt man allmählich Angst um den Herrn, dessen Ausschluss vom Festival prompt erfolgte. 130 Minuten währt das hochromantisch inszenierte Spektakel (mit Anklängen an Vinterbergs "Festen", ach, aus der guten alten Dogmazeit) - die vielen Minuten lassen das Publikum ausgiebig husten. Melancholie, wird von Trier später erläutern, habe mit Sehnsucht zu tun. Nach seinem Film sehnt sich in Cannes nur eine Handvoll.
Jeder Film findet andere Freunde
Ein hüstelndes Publikum ist ein ausgezeichneter Indikator: Es zeigt, das Interesse flaut ab. Ähnlich wie von Trier erging es dem Franzosen Alain Cavalier und der Japanerin Naomi Kawasi, die ein Menschenpaar in der nordjapanischen Bergwelt den Geistern ihrer Heimat ausliefert. Was für ein Räuspern, welch ein Gehüstel! Äußerst gefesselt verfolgen die Leute indessen die neue Hochglanz-Horrorfarce des Spaniers Pedro Almodívar, eine elegant gefilmte, ins Toledo des Jahres 2012 verlegte Frankensteinerei um einen skrupellosen Bravourvertreter der plastischen Chirurgie. Der Herr (kultiviert, formschön gegelt wie der Baron zu Guttenberg: Antonio Banderas) versteht Gesichtshäute und Vaginaltrakte so effektvoll zu verpflanzen, dass zuletzt kein Mensch mehr weiß, wer Männlein und wer Weiblein, wer am Leben und wer tot ist. Das ist jokos, doch die große Festivaloffenbarung stellt man sich anders vor. Wie? Bei Kaurismäki, bei den Dardennes liegt die Antwort, vielleicht bei Malick, vielleicht auch bei Hazanavicius.
Das 64. Cannes-Festival, das morgen Abend seine Preise verleiht, mag am Ende kein großes Festival gewesen sein, aber ein größeres war es schon. Ohnehin findet jeder Film andere Freunde; die, denen er vorgesetzt wird, können ihn mögen wie Grießbrei oder verschmähen wie glitschige Austern. Auch bei den Preisrichtern treffen Fleischfresser, Seafood-Verächter und Vegetarier aufeinander, von Vorlieben gesteuert, ums Geltenlassen bemüht. Die Jury sucht aus - nur, was sie dann wählt, muss nicht jedem in jedem Fall schmecken.
Die Debatte um Lars von Trier geht weiter
Interview: Nach seiner Äußerung „Ich bin ein Nazi“ ist der dänische Regisseur Lars von Trier, wie berichtet, von der Festivalleitung zur „unerwünschten Person“ erklärt worden. In einem Interview hat dies der Regisseur nun eine „groteske Situation“ genannt. „Andererseits komme ich jedes Jahr hierher und habe das Gefühl, dass ich Filme nach dem Geschmack des Festivals drehe. Ich hatte Angst, dass ich mir eine unbewusste Zensur auferlege. Wenn diese ganze Sache etwas Gutes hat, dann vielleicht, dass ich nun freier bin.“ Dann fügte er noch ironisch hinzu, „dass ich eher ein bisschen stolz darauf bin, eine Persona non grata zu sein.“ Früher habe er Alkohol getrunken und Antidepressiva genommen, da sei es nicht zu solchen Ausfällen gekommen. „Ich sollte also lieber wieder Medikamente nehmen und Alkohol trinken – das hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.“
Verleih: Israel und Argentinien haben den Film „Melancholia“ abbestellt. Für die israelische Absage war folgende Äußerung des Regisseurs maßgeblich: „Ich bin sehr für Juden – aber nicht zu sehr, weil Israel absolut schrecklich ist“ (im Original: „a pain in the ass“). Von Triers Geschäftspartner Peter Albek von der Filmgesellschaft Zentropa in Kopenhagen erwartet weitere Absagen. Er nannte Triers Äußerungen „schwachsinnig und dämlich“.