David Cronenbergs großes amerikanisches Kino „Maps to the Stars“ und die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne mit ihrer Regiearbeit „Deux jours, une nuit“ begeistern beim Filmfestival in Cannes.

Cannes - Während des Festivals ist Cannes ein Mekka für Diebesbanden und Prostituierte. Die reisen eigens an in der kleinen französischen Mittelmeerstadt, um ihren Schnitt zu machen in den elf Festspieltagen im Mai. Täglich erscheinende Filmfachblätter nennen Straßen und Plätze, die der besonnene Festivalbesucher auf dem nächtlichen Weg ins Hotel oder Apartment besser meiden sollte. Die eindrucksvoll bewaffneten Polizisten und Nationalgardisten in den Gassen erfüllen indes wohl eher symbolische Aufgaben – ebenso wie die Bombenspürhunde, die vor den chefmäßigen, sprich US-amerikanischen Gala-Vorführungen durch das Premierenkino Grand Théâtre Lumière gescheucht werden.

 

Knapp dreißigtausend Fachbesucher, von denen viele einander per E-Mail Filme schicken, legten stundenlang das WiFi von Cannes lahm. Asiatische Großproduzenten speisen Langusten für 144 Euro das Stück. Und alle tragen sie ihren Teil bei zum unvergleichlichen Festivalerlebnis Cannes, das sogar schon durch den Geruch von Fäkalien im Kinosaal gewürzt wurde. Betagte Kritiker, die morgens das Bad nicht gefunden haben, stellen hier durchaus eine olfaktorische Herausforderung dar.

Filmfestivals sind nichts für Weicheier

Filmfestivals sind eben nichts für Weicheier, und da ist noch nicht einmal von den Filmen selbst die Rede. Die weisen im Wettbewerb eine Durchschnittslänge von zweieinhalb Stunden auf – sollte es in Zeiten allgemeinen Spar-Terrors nicht endlich einmal einen Preis für ökonomisches Erzählen geben?! Dass Letzteres möglich ist, beweisen die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrer neuen, neunzigminütigen Regiearbeit „Deux jours, une nuit“. Doch Szenenapplaus bekam dieser Film nicht wegen des hinreißenden Zeitmanagements, sondern weil er in der für die Dardennes charakteristisch sensiblen Weise von der totalen Ökonomisierung menschlicher Beziehungen handelt.

Erzählt wird von Sandra, die ihre Arbeit in einer Solarfirma verlieren soll, damit die anderen Angestellten einen Gehaltsbonus erhalten können. So stellen es wenigstens der Vorarbeiter und der Firmenleiter dar – tatsächlich geben sie aber den auf der Fabrik lastenden Konkurrenzdruck an die Arbeiter weiter, indem sie diese gegeneinander ausspielen. Nun soll die Belegschaft geheim abstimmen: Entweder den Bonus einstreichen oder Sandra in der Firma behalten. Der erst kürzlich von einer schweren Depression genesenen Mutter zweier Kinder bleibt ein Wochenende, um die anderen Angestellten zu bitten, für sie zu stimmen und auf den Bonus zu verzichten, den einige dringend brauchen.

Sandra muss also für sich werben. Einen nach dem anderen sucht sie auf, oder sie ruft die Leute an, was den Brüdern Dardenne die Möglichkeit bietet, eine ganze Palette menschlicher Gefühle zu offenbaren, die dann das Verhalten bestimmen: von Scham über Angst und Egoismus bis hin zu Verständnis und Solidarität. Sandra wird von Marion Cotillard verkörpert, und sicher ist es nicht allzu schwer, sich mit einer schönen, fragilen und jungen Frau zu solidarisieren als etwa mit einem hässlichen Ekel. Aber die Dardennes zeichnen eine komplexe, auch nervige und in jedem Fall unglamouröse Hauptfigur – vor allem aber erzählen sie kein Märchen. Nur eine Geschichte über Selbsterkenntnis und die wachsende Stärke einer Schwachen.

Die Goldene Palme für „Deux jours, une nuit“ wäre keine schlechte Idee, obwohl Jean-Pierre und Luc Dardenne diese Trophäe in Cannes bereits zwei Mal entgegennehmen durften: 1999 für „Rosetta“ und 2005 für „L’ enfant“. Ansonsten widmete sich der Wettbewerb bislang vornehmlich den Befindlichkeiten seltsamer Männer. Der US-Amerikaner Bennett Miller, der 2005 in „Capote“ den unlängst verstorbenen Philip Seymour Hoffman inszenierte und in „Moneyball“ (2011) einen interessanten Sportfilm drehte, erzählt in der Arbeit „Foxcatcher“ wieder eine – wahre – Geschichte aus der Welt des Sports.

Die Pervertierung amerikanischer Werte

In den achtziger Jahren bekam der Ringer Mark Schultz unerwartet einen Anruf von John du Pont, einem der reichsten Männer der USA. Unter dem Mantel seiner Liebe zum Sport und zum Vaterland offerierte der Multimilliardär dem Olympia-Gold-Gewinner von 1984 finanzielle Förderung, Wohnung und ausgezeichnete Trainingsmöglichkeiten auf seinem weitläufigen Landsitz. Tatsächlich ging es du Pont auch hier darum, der Größte und Einzige zu sein: nämlich der Trainer, von dem alle Welt spricht, der Trainer der US-Olympiamannschaft für Seoul. Mark (Channing Tatum) wurde aber von seinem genialen Bruder Dave (Mark Ruffalo) trainiert, was zu tragischen Konflikten führt, weil du Pont dominieren will.

Im präzisen Spiel der Darsteller, allen voran Steve Carell, der aus dem Milliardär ein unberechenbares Reptil macht, entwirft „Foxcatcher“ nicht allein das Bild einer hochgradig dysfunktionalen Beziehung zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Männern. Es geht auch um die Pervertierung so genuin amerikanischer Werte wie Wettkampfgeist und Leistungswillen, die hier letztlich einem pathologischen Herrschaftswillen untergeordnet werden. Sollte man das metaphorisch verstehen?

Ein düsteres und böses Bild der Traumfabrik

Bennett Millers neuer Film ist gewiss kein Palmen-Favorit, steht aber wieder einmal für die besten Erzähltraditionen des Hollywood-Kinos. Und deren schillerndem Ursprungsort widmet sich der kanadische Regisseur David Cronenberg gleich ganz mit seiner psychoanalytisch ausgerichteten, leicht überfrachteten, aber durchaus unterhaltsamen Hollywood-Farce „Maps to the Stars“. Der Film entwirft ein düsteres und böses Bild der Traumfabrik in verschiedenen Episoden und Figuren, die alle irgendwie miteinander verbunden sind. Da treten auf: die alternde Schauspielerin, die nicht aus dem Schatten ihrer toten Mutter, einer Oscar-Gewinnerin, treten kann (Julianne Moore); des weiteren ihr Therapeut, ein Psycho-Guru mit schrecklichem Geheimnis (John Cusack); ein 13-jähriger Kinder-Star (Evan Bird), der seiner Rolle mit der Pubertät entwächst und weder damit noch mit dem Erfolgsdruck zurechtkommt; ein Limousinen-Chauffeur (Robert Pattinson), der selbstredend groß beim Film rauskommen will; und eine mysteriöse junge Frau (Mia Wasikowska). Gastauftritte und Anspielungen auf reale Hollywood-Stars, Inzestmotive, Wiedergänger und Geister, die die Lebenden quälen – „Maps to the Stars“ ist eine kalte, aber auch glamouröse Abrechnung mit Hollywood, deren bester Dialogsatz folgendermaßen lautet: „Get a Life! – Or maybe a Death!“

Am Rande des offiziellen Programms von Cannes kommt es immer wieder zu Skandalen: Die iranische Schauspielerin Leila Hatami, die zur Jury gehört, wurde von Irans Vize-Kulturminister als unanständig beschimpft, weil sie einen Kollegen mit dem hier üblichen Wangenküsschen begrüßte. Dominique Strauss-Kahn geht juristisch vor gegen den Spielfilm „Welcome to New York“ von Abel Ferrara, der die Geschichte von Strauss-Kahns New Yorker Sex-Affäre erzählt und in Cannes geradezu verschämt präsentiert wurde – Strauss-Kahn wirft dem Regisseur unter anderem Antisemitismus vor. Aber auch zu anderen machtvollen Werbemaßnahmen kam es: Mit Panzern rollten Sylvester Stallone, Jason Statham, Arnold Schwarzenegger, Mel Gibson, Harrison Ford und Antonio Banderas zur Pressekonferenz ins Hotel Carlton, um die Trommel für „Expendables 3“ zu rühren – sie forderten aber auch die Freilassung der entführten nigerianischen Mädchen. Ein Hort absurder Widersprüche – das ist das Festival von Cannes.