Mit dem Wettbewerbsbeitrag „Under the Skin“ hat Scarlett Johansson sich weiter als je in ihrer Karriere vom Hollywoodstil entfernt. Neben Johansson beleben auch der Monty-Python-Veteran Terry Gilliam und Christoph Waltz das Filmfest in der Lagunenstadt.

Stuttgart - Die Dreharbeiten waren wie eine Therapie“, sagt der Hollywoodstar Scarlett Johansson. Mit Jonathan Glazers Kunstfilm „Under the Skin“ hat sie sich weiter als je in ihrer Karriere vom Hollywoodstil entfernt. Der Wettbewerbsbeitrag wurde über weite Strecken mit versteckter Kamera in Schottland gedreht. Nirgendwo gibt es mehr Überwachungskameras als auf den britischen Inseln, in sofern machten ein paar mehr davon kaum einen Unterschied. „In einer Szene stürze ich auf der Straße und es war wirklich interessant, wie sich die Passanten verhalten. Einige waren sehr hilfsbereit, andere machten einfach nur Handyfotos. Aber bevor wir erkannt worden wären, zogen wir schnell wieder ab.“

 

Die Verfilmung des gleichnamigen Fantasy-Romans von Michel Faber ist neben Philip Grönings Kunstfilm „Die Frau des Polizisten“ der bislang radikalste Kunstfilm im Wettbewerb von Venedig. Johanssons denkbar vieldeutige Filmfigur, die mit einem Van durch eine ebenso märchenhafte wie raue Küstenlandschaft fährt und Männer verführt, ist vielleicht der erstaunlichste Alien der jüngeren Filmgeschichte. Wer will kann in ihr eine Außerirdische sehen, vielleicht ist sie aber doch eher eine tragische Waldfee, entsprungen einem viktorianischen Gemälde.

Niemand kann dieser Welt entkommen

Man muss hier am Lido schon ins Kino gehen, um das Meer zu sehen, sonst kommt man dazu ja nicht. Im bislang schönsten Filmbild dieses Festivals hat es sich Christoph Waltz an einem einsamen Strand gemütlich gemacht, bis ihm ein Ball entgegen schwimmt. Kein Volleyball wie „Wilson“, Tom Hanks’ Gefährte in der Robert Zemeckis` Robinsonade „Cast Away“, sondern ein billiges aufblasbares Souvenier vom Badestrand. Waltz wirft ihn grazil hoch und fängt ihn wieder, entdeckt dann aber im goldgelben Sonnenball ein noch schöneres Spielzeug. Mit Schwung wirft er ihn tief hinein in den Postkartenhorizont, um den schönen rosaroten Sonnenuntergang noch etwas zu beschleunigen.

Aus Terry Gilliams „The Zero Theorem“ stammt dieses schöne Schlussbild, das wir an dieser Stelle ruhig verraten dürfen, da es uns zwar glücklich, aber über den Ausgang der Geschichte auch nicht wirklich schlauer macht. Was ist nun real, was eingebildet in diesem kafkaesken Zukunftsstück um den einsamen Angestellten eines mächtigen Konzerns, der in seinem grandiosen Domizil, einer entweihten Kathedrale voller Computermonitore, 24 Stunden online ist? Wichtig ist die Antwort nicht, denn wirklich entkommen kann man dieser Welt wohl kaum.

Christoph Waltz auf der Suche nach seiner Bestimmung

In der nicht allzu fernen Zukunft, in die der Monty-Python-Veteran mit gewohntem Pessimismus führt, lebt man die „Gamfication“: So hat der britische Programmierer Nick Pelling jenes Phänomen benannt, dass uns spieltypische Elemente in allen Lebensbereichen offeriert. Für die Arbeit des von Waltz gespielten Hackers Qohen Leth bedeutet das tagein tagaus in einer an die Würfelwelt des populären „Minecraft“ angelehnten 3-D-Landschaft mathematische Formeln wie Bauklötze zusammen zu setzen. Versprochen wird ihm dafür eines Tages ein Anruf über die eigentliche Bestimmung seines Lebens. Der allerdings kommt nie, dafür meldet sich nur die betuliche Online-Psychologin.

Bessere Aussichten auf die Zukunft dürfen wir vom Autor des Films „Das Leben des Brian“ nicht erwarten, der Waltz auch einmal ein Kruzifix, an dem er Halt sucht, unfreiwillig demolieren lässt. Und zur Lösung von Computerproblemen präsentiert der Ex-Amerikaner ein recht archaisches Mittel, das in dieser versponnen Komödie recht oft zum Einsatz kommt: den Vorschlaghammer. Es ist ein weiter Weg von seinem Meisterwerk „Brazil“ zu diesem grellbunten Nebenwerk, das in rumänischen Ateliers entstand.

Märchenhafte Wunder und technische Utopien

An Einfallsreichtum überflügelt den 72-jährigen in diesem denkbar weit gemischten Wettbewerb der gleichaltrige Japaner Hayao Miyazaki – und das obwohl sich der Trickfilmmeister auf politisch delikates Terrain vorwagt und sich erstmals der Form des historischen „Biopic“. In „Kaze Tachinu“ („The Wind Rises“), geht es um den Entwickler des erfolgreichsten japanischen Kampfflugzeugs im Zweiten Weltkrieg. Niemand allerdings, der das Epos in Venedig sah, wird es auf dieses eine, in den Vorberichten so sehr herausgestellte Thema reduzieren: Aufgebrochen in viele Traumsequenzen und märchenhaft erfundene Begegnungen des Konstrukteurs Jiro Horikoshi, dekonstruiert der Film die Konventionen – um sie auf Umwegen dann doch noch zu erfüllen.

Die Flugroute ist verwegen und führt sogar nach Deutschland: Als der junge, aufstrebende Ingenieur als Teil einer Wirtschaftsdelegation die Dessauer Junkers-Werke besucht, wollen ihm fremdenfeindliche Uniformierte jeden Blick verweigern – bis ihn Hugo Junkers persönlich zu einem Flug mit der G-38 einlädt. Die erstaunlichste Episode erzählt von einer Begegnung mit einem fiktiven deutschen Kulturmenschen, dem der Regisseur den Namen des Kopenhagener Flughafens Kastrup gegeben hat. Dieser fühlt sich von einer japanischen Herberge an Thomas Manns „Zauberberg“ erinnert und erzählt warnend von Junkers Entmachtung durch die Nazis, prophezeit das Ende des Zweiten Weltkriegs – und singt sodann auf deutsch den Filmschlager „Das gibt’s nur einmal“. Hatten wir wirklich geglaubt, der Pazifist Miyazaki würde sich zu einer unkritischen Feier von Kriegsgerät aufschwingen? Sein Film braucht den Vergleich mit anderen seiner Meisterwerke nicht zu scheuen. Wie die fantastischen Erzähler des 19. Jahrhunderts beschwört er einen Zusammenhang zwischen den märchenhaften Wundern und den technische Utopien.