Cannes kommt einem steten Wechselbad zwischen Schocks und schöner Menschlichkeit gleich: Langsam kommt das Festival in Fahrt – mit Filmen von Jia Zhangke, Asghar Farhadi und den Coen-Brüdern.

Stuttgart - So ist es prima! Bloß der Kopf sieht noch doof aus.“ Im Presseraum von Cannes sitzen Journalisten in geballten Rudeln vor den Laptops, gern auch kauernd auf dem Boden, und die meisten schreiben keine Texte, sondern bearbeiten Fotos. Die Welt schreit nach Bebilderung. Davon lebt Cannes.

 

Je grausiger, desto gefragter – mit dem blutig verkitschten Millionenspiel um einen Mörder, den die Polizei vergebens vor einer Meute lösegeldgieriger Rächer zu schützen versucht, folgt der Japaner Takashi Miike dieser simplen Spekulation: „Shield of Straw“ ist ein Thriller voller ordinärer Action. Anderen Regisseuren täte man aber unrecht, sie meinen es ernst. Ihre Bilder haben das Zeug zu erschüttern.

Eigentlich unvorstellbar, dass einer, dessen Filme wie aus dem Underground protokollieren, was Chinas Regierung zu verschweigen, zu leugnen, zu beschönigen sucht – dass einer wie Jia Zhangke nicht längst arretiert ist. Aber der unerschrockene Kehrseitenzeiger läuft frei übern roten Teppich in Cannes, wo er mit seinem jüngsten Desillusionierungswerk vierfach Beklemmung schafft: Sein China ist nichts als ein riesiges ödgraues Puzzleland, zusammengestückt aus vier grausen Episoden voller Rachsucht, Ausweglosigkeit, Hass, amoklaufender Verzweiflung, rubriziert unter dem Titel „Ein Hauch von Sünde“. Ganze Absolution will der Titel nicht erteilen, doch will er Schuld relativieren – da Menschenwürde sich nicht unausgesetzt treten lässt. Irgendwann schlägt sie zurück, dann fürchterlich.

Die Drift von Arm und Reich ist reißend geworden

Um sein Dorf vorm Ausverkauf zu bewahren, wird ein alter Grubenmann zum Serienkiller. Ein zugereister Leiharbeiter, ohne Perspektive, schießt sich buchstäblich den Weg ins neue Jahr frei. Ein halbwüchsiger Automationsgehilfe verliert Job um Job, bis er sich mit erloschener Hoffnung vom Hochhausdach stürzt. Im Massagesalon greift die Rezeptionistin, schwer bedrängt von zwei reichen geilen Kunden, in letzter Not zum Dolch – was folgt, sind grauenhafte Sequenzen, Martial Arts einer metzelnden Furie.

Die Anmutung ist von der Regie geplant. Chinesische Kunsttradition, einfließend in ein Bild von schockierender Gegenwartsnähe: so verschweißt Jia Zhangke Dokumentiertes mit Fiktivem. Sein Film spannt ein Netz aus vom schneekalten Norden bis zum subtropischen Süden, um immergleiche Tatbestände einzufangen: Korruption, Drangsalierung, Behördenwillkür, Lohndumping, Neureichtum, Ausbeuterei. Die Drift zwischen Arm und Reich ist reißend geworden – Selbsterhaltung, überstark bedrängt, birst in egomanischem Furor, Selbstjustiz, Vergeltungsgewalt: in der Lust-Pein, Entwürdigung rächerisch zu quittieren. Wer China kennenlernen will, sollte Jia Zhangkes Film gesehen haben.

Die Lektion der Patchworkfamilie

Die soziale Dekonstruktion ist längst weltumspannend geworden. Schon angesichts des ersten Wettbewerbsbeitrags, beim Mexikaner Amat Escalante, sahen die feinen Festivalgäste von Cannes sich mit dem globalen Prekariatsproblem konfrontiert, nun erreichte sie ähnlich Trostloses von fernöstlicher Seite. Doch was in Escalantes Drogenfilm begonnen hatte, der Blick aufs Familiäre, setzte sich fort – am intensivsten, spannendsten, bedrängendsten in Asghar Farhadis Film „Die Vergangenheit“, welcher zeigt, was mit Partnern, vor allem mit Kindern passiert, wenn Trennungen vollzogen, neue Ehen geschlossen werden. Da kommt abgetanes Leben prospektiertem Leben schmerzvoll in die Quere. Heimatlosigkeit, Entwurzelung, Neuorientierung in einem kompliziert gewordenen Beziehungsgefüge – aus den emotionalen Wirrnissen einer Patchworkfamilie macht Asghar Farhadi nicht nur grandioses Unterhaltungskino, sondern geradezu eine Lektion.

Ein Iraner kehrt von Teheran zurück nach Paris, um sich von seiner Frau (sehr selbstbewusst, sehr französisch: Bérénice Bejo) auf deren Wunsch scheiden zu lassen. Was er nach vierjähriger Abwesenheit feststellt, fordert ihm einiges an Gelassenheit, Verständnis, Geduld ab: verstockt der Sohn, bös verstört die pubertierende Tochter, die mit der Mutter kaum noch sprechen mag. Klar, Mutter hat einen Neuen, verheiratet, handelnd mit erlesenem Klamottentand, und die Tochter weiß etwas Schlimmes: dass die Frau jenes Mannes, als sie von der Affäre erfuhr, sich umzubringen versuchte und seitdem im Koma liegt.

Stetes Wechselbad

Nirgendwo anders als in Paris, betont Farhadi, habe er diesen Film drehen können, doch die Sightseeing-Stadt bekommt man keine Sekunde lang zu Gesicht – stattdessen dringt die Kamera in Küchenwinkel und Dachzimmer vor, meist verharrend in dem lausigen Häuschen mit vermatschtem Vorgarten, irgendwo in der Banlieue. Die beiden Männer, Väter beide, sind wohl liebe, nette Kerle, die mit Kindern umzugehen wissen. Doch genau das ist es ja, was Farhadis in jeder Szene so stimmiger Film vermittelt: Wenn was schiefläuft im Zusammenleben, muss die schlechte Situation nicht von schlechten Menschen bewirkt sein; aber bessere können sie wenden, möglicherweise. Ob wirklich, das lässt der Film offen . . . Diese „Vergangenheit“ dürfte Zukunft haben im Wettbewerb um die Goldene Palme. Drehbuch brillant, schauspielerisch grandios umgesetzt, was will man mehr? Der Berlinale-Star Farhadi ist auch an der Croisette ein Star.

Cannes – stetes Wechselbad zwischen Schocks und schöner Menschlichkeit. Auch der Franzose Arnaud Desplechin bringt in seinem Film „Jimmy P.“ zwei Männer freundschaftlich zusammen, einen Psychiater und dessen Patienten. Ort: das Topeka Military Hospital in Kansas. Der Kranke ist ein Schwarzfußindianer, der seit dem Weltkrieg unter unerklärlichen Symptomen leidet, in Spasmen verfallend, von Blindheit geschlagen. Obenhin scheint der Therapeut, den man ihm zuordnet, kaum geeignet – ein extravaganter, ehrbegieriger Universitätsdozent, aber das täuscht: Als Anthropologe kennt er sich aus in indianischer Kultur, spricht selber Mojave-Dialekt, notiert auch sogleich Schwarzfußvokabeln in sein Notizbuch. So kommen die Männer sich näher. Übrigens ist der Fall verbürgt, aufgezeichnet 1951 vom Ethno-Psychoanalytiker Georges Devereux, aus dessen forschenden Bemühungen Desplechin filmisches Kapital zu schlagen versucht. Gedreht mit amerikanischem O-Ton, bleibt das Projekt aber letztlich arg hergeholt. Benicio del Toro als Kriegsveteran und peingeschüttelter „Res“-Farmer, jetzt auf dem Kliniksofa, und Mathieu Amalric als sein honetter, neugierig-kluger Examinator – sie spielen sich ums Läppchen, nur wozu? Psychoanalyse, gar im ethnologischen Gewand, interessiert kaum noch. Der Stoff wirkt vorgestrig.

Das Leben ein Running Gag

Weniger weit zurück liegt das Gestern, das die Coen-Brüder mit ihrer atmosphärestarken Gaslight-Folksong-Story beschwören. „Inside Llewyn Davis“ ist eine Hommage an die Folkmusikszene in New Yorks Greenwich Village, bevor Bob Dylan kam: warmherzig, düster, elegisch, zugleich erfrischend verkauzt, erinnernd an die Anfangszeit des filmenden Geschwisterpaars, zwar frei von schwarzem Humor, dafür mit einem roten Kater, der als Running Gag durch die Szenen saust.

Der vergessene Typ, dem da ein Denkmal gesetzt wird, war der Sänger Dave Van Ronk: hier zu sehen als Kellerbarde, der sich für ’nen Großen hält, aber ein Loser ist, zum Asshole erklärt von der Freundin, die er geschwängert hat, rausgeschmissen aus der WG, von Studio-Managern ums Geld geprellt. Missmutig trampt er möglichen Engagements hinterher, von NY nach Chicago und retour (auch John Goodman sitzt breit zerflossen wieder im Fonds), um zuletzt in der vertrauten Gosse dieselben Kinnhaken zu empfangen wie am Anfang. Das Leben ein Running Gag – trüb, aber als Folksong herzzerreißend schön zu intonieren. Und das prächtige Timbre, mit dem Oscar Isaac als dauerbekümmerter Drifter Davis sich freisingt, tröstet sogar die regennassen Festivalgäste in Cannes.