Die Geister der Gegenwart: Beim Filmfestival von Cannes sind die neuen Filme von Jim Jarmusch, Olivier Assayas, Brillante Mendoza, Pedro Almodóvar und der Brüder Dardenne zu sehen.

Stuttgart - Wenn man morgens in Cannes auf dem Weg zum Kino die Croisette entlang eilt, begegnen einem nicht selten Frauen in Abendkleidern und aufwendigem Makeup, natürlich auf High Heels. Das sind keine Schönen der Nacht, obwohl auch das horizontale Gewerbe während der Filmfestspiele brummt, sondern Französinnen, die via Outfit selbst noch die tägliche, ganz banale Kritiker-Vorstellung um 8.30 Uhr zum Event machen. Chapeau! Mit Wagemut und Fantasie lassen sie nicht nur ihren eigenen Alltag, sondern auch jenen des Betrachters im neuen Licht erstrahlen – was auch dem US-Regisseur Jim Jarmusch gelang mit „Paterson“, einer wundervollen filmischen Betrachtung über die Poesie, das unspektakuläre Leben in einer Kleinstadt und beides zusammen.

 

Das Anliegen der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne indes ist ein anderes. Die beiden Belgier haben in Cannes bereits zwei Mal die Goldene Palme gewonnen; in ihren besten Filmen setzen sie das berühmte Kino der moralischen Unruhe fort, das seinen Ursprung in Polen hat. In ihrer neuen Regiearbeit „La Fille Inconnue“ verkörpert Adèle Haenel eine junge Ärztin, die abends eine Afrikanerin nicht mehr in die bereits geschlossene Praxis einlässt. Am nächsten Morgen berichten ihr zwei Polizeibeamte vom Tod der Frau, deren Namen keiner kennt. Dr. Davin recherchiert nun selbst, um der Toten ihre Identität zurückzugeben und einen Grabstein zu stiften. Als persönliche Ermittlung strukturiert, wirft „La Fille Inconnue“ ethische Fragen auf: Wie wird aus einem Versäumnis schließlich Schuld? In welchem Verhältnis stehen Vertrauen und Bekenntnis zueinander? Inwieweit heilt ein Arzt die Gesellschaft? Leider lässt einen die Thesenhaftigkeit des Films unbeteiligt zurück: Die Spannung zwischen dem Drama des anonymen Todes und der dem Arztberuf auferlegten Nüchternheit vermochten die Dardennes nicht recht auszuspielen.

Lars Eidinger als Lover

Langsam macht sich leise Enttäuschung breit unter den Kritikern, zumindest was den Wettbewerb dieses 69. Festivals von Cannes angeht. Olivier Assayas erntete gar Buh-Rufe für seine neue Regiearbeit. In „Personal Shopper“ schickt der französische Regisseur die US-Schauspielerin Kristen Stewart in der filmtitelgebenden Funktion durch eine Geistergeschichte. Maureen kauft nicht nur Haute-Couture-Garderobe und Luxus-Accessoires für eine Celebrity ein, sondern ist auch ein Medium und trauert zutiefst um ihren ebenfalls spiritistisch begabten Bruder, der jung an einem Herzfehler starb. Immer wieder wird Maureen von einer Präsenz heimgesucht, deren Wesen sie nicht entschlüsseln kann. Als ihre Promi-Klientin ermordet wird, offenbart sich die schwere innere Krise der jungen Frau. In der Luft schwebende Wassergläser erheitern das Publikum dabei ebenso wie geisterhafte Ansichten des Verstorbenen in einem Küchenfenster – und Lars Edinger hat einen nicht ganz kleinen Auftritt als undurchsichtiger Lover von Maureens reicher Kundin. Das war es auch schon. Oder vielleicht doch nicht: Mit ihrem düsteren Blick und transgressiven Spiel in nunmehr zwei Filmen – der andere war Woody Allens „Café Society“ – hat sich Kristen Stewart in Cannes immerhin für den Darstellerinnenpreis empfohlen.

Dieser Preis könnte aber auch an Jaclyn Jose gehen: In „Ma’Rosa“, dem neuen Film des philippinischen Festivaldarlings Brillante Mendoza, spielt sie eine Frau, die ihre Familie mit großer Autorität zusammenhält. Vater, Mutter und vier Kinder leben in ärmsten Verhältnissen; die Eltern betreiben mehrere Geschäfte, um über die Runden zu kommen, unter anderem dealen sie mit Drogen. Als Rosa und ihr Mann Nestor verraten und verhaftet werden, geraten die ungebremste Willkür und Korruptheit der Polizei in den Blick: Sie bestiehlt, misshandelt und erpresst Verdächtige; entweder sie bezahlen ein „Auslösegeld“, oder sie gehen ins Gefängnis. „Ma‘ Rosa“ ist von einer großen Dringlichkeit der Inszenierung, ganz nah bei den Protagonisten, ohne sie im Sinn eines Sozialdramas zu benutzen.

Aufstand gegen die Geldmacht

Beglückt kommt man nach einem solchen, gewiss nicht leicht konsumierbaren Film aus dem Kino und registriert die Neuigkeiten: Streikwellen erschüttern Frankreich, während das Festival zur Debatte über Geschlechtergerechtigkeit im Film einlädt und sich andere Veranstaltungen, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen, den Flüchtlingen in Europa widmen. Die US-Regisseurin Laura Poitras zeigt „Risk“, ihren Dokumentarfilm über Julian Assange. Bei der Gala zum brasilianischen Wettbewerbsbeitrag „Aquarius“ von Kleber Mendonça Filho zückte das Filmteam auf dem roten Teppich handgemalte Plakate mit der Aufschrift „Brasilien ist keine Demokratie“. Protest in Gala-Robe: Das ist Cannes. Der Aufstand gegen die Geldmacht, oft von unten, ist ein wiederkehrendes Thema beim Festival. In Mendonça Filhos Film verkörpert Sonia Braga eine gutsituierte ältere Frau, die als letzte Wohnungseigentümerin stur in ihrem Apartment bleibt und gegen die Schikanen einer Firma kämpft, die hier eine Luxusimmobilie plant. Die Veränderungen in den Städten und ihren Vierteln sind Mendonça Filhos Zentralthema.

Überraschenderweise zählt „Aquarius“ zu den Preisfavoriten dieses Festivals, neben „Toni Erdmann“ von Maren Ade, „Paterson“ von Jim Jarmusch und „Sieranevada“ von Cristi Puiu. Kaum Chancen hat Pedro Almodóvar mit „Julieta“, einem Drama nach Alice Munros Prosavorlage über die verborgenen Facetten einer Ehe und einer Mutter-Kind-Beziehung. Der spanische Regisseur kehrt zu seinen Anfängen zurück und erzählt die Geschichte einer Frau (Emma Suárez/Adriana Ugarte), die eine Rekonstruktion der Vergangenheit versucht, nachdem sich ihre Tochter von ihr losgesagt hat. Wenn die Psychologie des Westens und die Realitäten und Mythen der Dritten Welt in Cannes kollidieren, ist das kein Drama, sondern der Reichtum des Kinos.