Die Regisseure Martin Scorsese und Jonathan Glazer zeigen in Cannes Spielfilme von großer visueller Wucht. Dennoch stellen sich den Zuschauern Fragen.

Der wohl mit am meisten Spannung erwartete Film des diesjährigen Festivals stand im französischen Cannes am Samstag auf dem Programm: Für Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ wartete die versammelte Zuschauerschaft fast eine Stunde lang im dieses Jahr sehr hartnäckigen Regen in einer Schlange, deren Länge in den kommenden Tagen kaum mehr zu toppen sein dürfte.

 

Die inzwischen 80-jährige Regie-Legende erzählt dieses Mal, basierend auf dem gleichnamigen Sachbuch, mindestens in den Grundzügen von wahren Ereignissen. In den 1920er Jahren entdeckt der Stamm der Osage, ein nordamerikanischer Indianerstamm aus dem Zweig der Sioux-Sprachfamilie, im ihm zugewiesenen Gebiet in Oklahoma Öl und kommt zu ungeahnten Reichtümern.

Ist der satirische Tonfall wirklich angemessen?

Das bringt gierige Neider wie den Viehzüchter William Hale (Robert de Niro) auf den Plan, der von Versicherungsbetrug bis Mord alles daransetzt, sich so viele Landrechte wie möglich zu sichern. Als sein naiver, auf schnelles Geld hoffender Neffe Ernest (Leonardo DiCaprio) sich in Mollie (Lily Gladstone) verliebt, deren indigene Familie etliche davon besitzt, schmiedet Hale besonders finstere Pläne.

Die Geschichte der lange von der weißen Mehrheitsbevölkerung ignorierten Todesfälle im Osage County, die erst spät das damals noch neue FBI auf den Plan riefen, ist eine packende. Scorsese inszeniert sie dabei gewohnt brillant, atmosphärisch dicht und trotz einer Länge von dreieinhalb Stunden spannend. Vielleicht hätte man daraus doch besser eine Miniserie gemacht? Und ist der gelegentlich aufblitzende satirische Tonfall wirklich angemessen?

Solche Fragen sind berechtigt, aber ein anderer Einwand wiegt schwerer. Dadurch, dass der Großmeister des Gangster-Epos sich auch hier auf die Täter als Protagonisten konzentriert, kommen ausgerechnet die Native Americans und nicht zuletzt die fantastische Lily Gladstone zweidimensional daher – und insgesamt zu kurz, obwohl ihre Perspektive die ergiebigere gewesen wäre. Der auch visuellen Wucht des außer Konkurrenz laufenden Films kann man sich trotzdem kaum entziehen.

Die Banalität des Bösen

Gleiches gilt noch mehr für „The Zone of Interest“, in dem der Brite Jonathan Glazer auf eine Art und Weise vom Holocaust erzählt, die man so noch nie gesehen hat. Er rückt, lose inspiriert vom Roman „Interessengebiet“ des gerade verstorbenen Martin Amis, den Lager-Kommandanten Rudolf Höss (Christian Friedl) und dessen Ehefrau Hedwig (Sandra Hüller) ins Zentrum. Statt den an den Insassen verübten Gräueltaten zeigt er nüchtern die Banalität des Bösen und die skrupellose Effizienz der Vernichtung als Ehe- und Familienalltag im Einfamilienhaus samt blühendem Garten, direkt an der Rückseite der KZ-Mauer. Ob die Kinder sich abends die schwarze Asche aus den Haaren waschen müssen oder Hedwig sich freut, wenn sie in ihrer neuen Zahnpasta einen versteckten Diamanten findet – letztlich läuft es einem in „The Zone of Interest“ permanent eiskalt den Rücken herunter.

Alles das, was Glazer nicht zeigt und seine Figuren nicht aussprechen lässt, ist besonders erschütternd, und der bemerkenswerte Soundtrack von Mica Levi (samt eines eindringlichen Sounddesigns) sowie ein unerwarteter Schluss, der in der heutigen KZ-Gedenkstelle angesiedelt ist, sorgen zusätzlich dafür, dass der Wettbewerbsbeitrag noch lange nach seinem letzten Bild nachwirkt.