Der Auftakt des Festivals ist von Gegensätzen geprägt. Während der Regisseur Baz Luhrman den „Großen Gatsby“ märchenhaft und knallbunt verkleidet, regiert in Filmen von François Ozon und Amat Escalante der nackte Schrecken der Wirklichkeit.

Stuttgart - Verrückt, verrückt, steht die Zeit still? Hier die Notiz aus einem vergilbten Papier: „Wann ist ein Film stilistisch unverwechselbar, wann ist er ,triftig‘? Wie gemeldet hat Thierry Frémaux, der künstlerische Chef der Filmfestspiele von Cannes, das eine wie das andere – das Unverwechselbare wie die Triftigkeit – dem deutschen Gegenwartskino abgesprochen, und zwar in toto, weshalb auch kein deutscher Regisseur derzeit beim großen Palmenwettbewerb mitwirken darf. Was Wunder, dass die Kolonie der Deutschen, die an der Croisette höchst unstolz zum Maulaffenfeilhalten verdonnert ist, nun bei jedem Konkurrenzfilm des soeben angelaufenen Festivals hohnvoll fragt: ,Ach Gott, und dies hier soll wohl triftig sein?‘“

 

Die Notiz ist zwölf Jahre alt. Sie fährt fort: „Gleich der Eröffnungsfilm lud aufs Bequemste zur Besteigung dieser wohlfeilen rhetorischen Retourkutsche ein. Der Australier Baz Luhrmann brachte . . .“ Ach, stimmt, Baz Luhrman brachte damals zur Eröffnung „Moulin Rouge“ nach Cannes, und die einzigen Qualitäten, die wir dem Film zusprechen konnten, hießen: überbordend opulent und bilderprächtig, Postkartenkitsch, zoomstark verclipst, mit poppigen Songsoßen übergossen.

Der „american way of life“ als knallbuntes Märchen

Jetzt war Baz Luhrman wieder da, diesmal mit dem „Großen Gatsby“, und das Ergebnis seines Mühens ist – nach zwölf Jahren – noch immer dasselbe: platzend vor Opulenz, ausschweifend „stylish“, fast obszön überreizt, schwelgend in visuellen, musikalischen Effekten. Luhrmans alte Bebilderungssucht, hier neu, obendrein dreidimensional: eine rasante Abfolge visueller Sturzgeburten – bloß dass diesmal die Kulisse nicht das Paris des Fin de Siècle stiftet, sondern New York und Long Island, hektisch durchzappelt und durchzuckt von einer vergnügungssüchtigen Millionärs-Society in den jazzseligen zwanziger Jahren.

Das Exzessive, Extravagante, verschwenderisch Lebenshungrige grundiert ja durchaus auch F. Scott Fitzgeralds Roman vom zwielichtigen Geldmenschen Gatsby, dem die Liebe wichtiger wird als aller eitel ausgekosteter Reichtum. Aber das Gesellschaftsdrama erzählt zugleich von einer Sehnsucht, einem stillen, endlich zerschellenden Traum, dessen Dynamik der Film jedoch in keiner Sekunde erahnen lässt. Die epische Tragödie, die Parabel über den „american way of life“ wird verspielt, eingetauscht in ein disneylandbuntes Märchen, bei dessen Anblick man immerfort überlegt, in welchem Game man solche Yachten, Parks und zinnenreiche Schlösser schon gesehen hat.

Gepflegte Orgiastik, schöne Panoramen

Baz Luhrman ist das Gegenteil eines Autorenfilmers, er ist Verfilmer, einer, der stets an Oberflächen verharrt, sich weniger an Erwachsene wendet als an Gaffer. Sein wahres Zielpublikum: Kids. Man sieht auch eigentlich gar keinen Film – man schaut durch ein Kaleidoskop, in quick gerüttelte, merkwürdig animiert wirkende Szenen, wobei die 3-D-Brille, welche der Gaffer aufsetzen muss, die wachsfigurenhafte Wirkung unheilvoll verstärkt.

Hach, aber welche Panoramen, welche Orgiastik bekommt man zu sehen: schwül-dekadente Affektiertheiten vor ochsenblutroten Tapeten, viel Glitter, Glamour, Tollhäuslerei in Ballrooms, Boudoirs, Vestibülen, so kostbar-überladen wie profanierte Sixtinas. Und mittendrin endlich er, Leonardo DiCaprio als Jay Gatsby, breitgestirnt, kurzgesichtig, smart, mit dem Flair eines figurbewussten Preisboxers. Er könnte jedoch auch ein Model sein, herauskopiert aus einem Modejournal der Roaring Twenties. Nein, diesem Technicolor-Gatsby nimmt man die Inbrunst, den amerikanischen Traum gleich doppelt zu realisieren, in monetärer wie in amouröser Hinsicht, schlicht nicht ab. Er posiert, als wär‘ er ein hochgekommener Stenz, emotional so wenig bewegt wie eine Schaufensterpuppe – erst gegen Ende des Zweieinhalbstundenfilms zeigt er glaubhafte Leidenschaft, im Streit mit dem verhassten Rivalen, dem er die wankelmütige Daisy nicht ausspannen kann: da pressen Widersacher Stirn an Stirn, wie Stiere im Gesellschaftsanzug, hochschick auch. Damals trugen die Herren noch Westen mit Revers.

Sterben im Kot

Dass der Regisseur wenig Interesse an Subtilitäten hat, merkt man in fast jeder Szene – zum Beispiel bei Gatsbys stockendem Phrasendreschen, als er der geliebten Daisy nach Jahren, über denen ein halber Weltkrieg hinging, wiederbegegnet. Verlegenheit macht ja sicherlich plump, hier aber ist sie zusätzlich plump inszeniert. Und wehmütig denkt man zurück an Robert Redford und Mia Farrow (in Jack Claytons Gatsby-Verfilmung 1974); denn auch Carey Mulligan als Daisy, stupsnasig, braunäugig, ein Blondchen mit dicken Lippen, reicht an Mia Farrows ätherischen Liebreiz nicht heran.

So bleibt Daisys Cousin Nick Carraway (Tobey Maguire ) die erfreulichste Erscheinung des Films. Staunenden Augs, schier verzückt, am Ende freilich angewidert, darf dieser Carraway sämtliche Szenen verfolgen, weil er als Erzähler der großartig-miesen Tragödie nicht nur das Sagen, sondern zudem das Schreiben hat – am Kaminfeuer tippend auf einer Underwood, irgendwo im ländlichen Mittleren Westen. Draußen vorm Fenster wirbeln dreidimensional riesige Flocken, und bloß um dieser Schneeflocken willen baute Baz Luhrman vermutlich das ganze Trudeln in seinen Film ein – als Rahmenhandlung, die im Grunde überflüssig ist. Bloßes Off hätte genügt.

Nach dem Schwelgen kommt das Grauen

Vor zwanzig Jahren war Leonardo DiCaprio mitsamt der „Titanic“ in den Fluten des Eismeers versunken, jetzt kippt er erschossen hintüber in den Luxuspool, schwebend wie ein Seepferd über kostbaren Bodenkacheln. Man weint ihm wenig Tränen nach. Und apropos Fluten: auch die Premiere in Cannes versoff im Regen. Doch nach Luhrmans Opulenz-Feuerwerk war man doppelt empfänglich für cinéastische Frugalität. Endlich wieder Realistik! Aber schon „Heli“, der Wettbewerbsfilm des Mexikaners Amat Escalante, dämpfte das Vergnügen jäh – so grauenhaft ist die Bestialität, mit der mexikanische Polizei da gegen eine Sippe dealender Kleinbauern vorgeht, dass man zweifelt, auf welcher Seite die besseren Menschen zu finden sind. Verrecken in allen Schockvarianten: sterbend im Kot, abgefackelt, gehängt, zersiebt.

Auch der Franzose François Ozon präsentiert in seinem sarkastisch mit Schmachtsongs unterlegten Porträt einer Siebzehnjährigen, die, unbemerkt von der Familie, binnen vier Jahreszeiten zum Callgirl heranreift, eher Bedrückendes. Was anhebt wie ein Film von Rohmer, geht nach der lustlos erlebten Defloration sofort über ins Krasse, mit allen standardisierten, mehr oder minder unappetitlichen Details des Pornogeschäfts. Als ein alter Herr bei dem Service zu Tod kommt (unter Gelächter im Festivalpublikum), fliegt alles auf, und zuletzt sitzt die Witwe (Charlotte Rampling) am Bett des Mädchens (sehr schön, doch kaum geläutert: Marine Vacth), gestehend, sie habe ähnliche Lüste gehabt wie der Gatte, nur dass sie‘s nicht wagte . . . Ob François Ozon, der Frauenversteher, da wirklich die Frauen bis auf den Grund verstanden hat?