Die Filmfestspiele in Venedig zeigen gehaltvolle Produktionen, darunter stechen zwei Filme hervor: „Anomalisa“, der im Inneren eines Kopfes spielt, und „Rabin, the last Day“, der mit Fundamentalismus in Israel ins Gericht geht.

Venedig -

 

Eigentlich ist „Anomalisa“ von Charlie Kaufman und Duke Johnson kein idealer Festivalfilm. Kein Star entsteigt winkend dem Boot am Lido, niemand schreitet über den roten Teppich, es gibt keine Autogramme zu verteilen. „Anomalisa“ ist nämlich von der ersten bis zur letzten Szene ein Animationsfilm. Kaufman und Johnson hätten ihre Geschichte durchaus mit Akteuren aus Fleisch und Blut drehen können – das hätte sie zwei Wochen gekostet. Sich über zwei Jahre hinweg mit gezeichneten Charakteren zu beschäftigen, erforderte indes eine sehr viel intensivere Beschäftigung mit den Figuren, was man dem Film in jedem Moment anmerkt.

Im Mittelpunkt steht ein gewisser Michael Stone, ein ergrauter Buchautor, der sein schreiberisches Talent dem Thema Kundenservice geweiht hat. Dazu will er nun in Cincinnati einen Vortrag halten, und bereits am Vorabend begleiten wir ihn gewissermaßen in sein Hotel: Aus der absoluten Nahperspektive erleben wir mit, wie die Welt dieses Langweilers Stück um Stück aus den Fugen gerät, ja, wir kriechen dank der Animationstechnik ins Innere seines Kopfes, wo sich die erstaunlichsten Dinge abspielen.

Den Trugbildern der Psyche hinterher

Es ist die Dekonstruktion eines routinierten, auch schon ein wenig zynisch eingeschliffenen Alltags, den Kaufman und Johnson mit den Albträumen, inneren Dämonen und Angstattacken ihres Protagonisten konfrontieren. Mit seinen Augen sehen wir, dass im Hotel plötzlich alle gleich aussehen, und geradezu anrührend gerät eine Liebesszene des dicklichen Michael mit der ebenfalls korpulenten Lisa, die beider Unsicherheit in Liebesdingen ebenso komisch wie mitfühlend enthüllt. Bereits in früheren Filmen wie „Beeing John Malkovich“ oder „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ sind Kaufman und Johnson als Drehbuchautoren den Trugbildern der Psyche gefolgt – als Regisseure haben sie nun in Venedig mit „Anomalisa“ den ästhetisch bisher originellsten und mutigsten Wettbewerbsbeitrag vorgelegt.

Mut wird man freilich auch Amos Gitai nicht absprechen, der mit „Rabin, the last Day“ mit dem religiösen Fundamentalismus ins Gericht geht, der die demokratische Substanz Israels auszuhöhlen droht. Das Zentrum des Films bildet die Nacht des 4. November 1995, als der jüdische Extremist Yigal Amir auf einer Massenkundgebung in Tel Aviv den damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin erschoss. Mit den Umständen der Tat befasste sich eine Kommission, die Gitai durch Schauspieler nachstellen lässt. Doch die Rekonstruktion dieses politischen Verbrechens bildet nur die Oberfläche des Films – Gitai dringt sehr viel tiefer und zeichnet ein Gesellschaftsbild, das zwischen der Ideologie eines „Groß-Israel“ und dem Pragmatismus der säkularen Kräfte zerrissen ist. Was 1995 begann, nämlich das Ende des Friedensprozesses, hält bis heute an.

Applaus und Buh-Rufe halten sich die Waage

Wie groß die Verlockung ist, aus solch einem Stoff Kapital für Verschwörungstheorien zu schlagen, hat einst Oliver Stone mit seinem „JFK“ vorgeführt – dafür ist Gitai viel zu redlich und genau. „Rabin, the last Day“ macht stattdessen deutlich, wie der religiöse Wahn der Siedler einen Mann wie Amir hervorbringen konnte, wie die jenseits des zivilen Rechts agierenden Eiferer vor allem aber auch politisch vereinnahmt wurden. Gitai gibt diesem Vorgang ein Gesicht. Es gehört Benjamin Netanjahu, der damals wie heute alles boykottiert, was einer Zwei-Staaten-Lösung näherkäme. Kein anderer Film im Wettbewerb außer Fukunagas „Beasts of no Nation“ entfaltete eine so explosive politische Brisanz wie diese Chronik eines angekündigten Mordes.

Allzu oft mühte sich die Konkurrenz am Lido dagegen mit Geschichten ab, denen es schlicht an Relevanz fehlte – nicht allein mit dem türkischen Film noir „Abluka“ von Emin Alper, der politische Gewalt in Istanbul in eine allzu enge Brüderbeziehung presst. Auch Oliver Hermanus „The endless River“ aus Südafrika zerfloss nach blutigem Beginn in einer wortkargen, vergrübelten Liebesgeschichte. Applaus und Buh-Rufe im Saal halten sich in diesem Jahr in Venedig deshalb zuverlässig die Waage.