Filmfestspiele Venedig Provokation vor und nach Corona
In Venedig zeigen die Promis Corona-Disziplin beim Schaulaufen auf dem Roten Teppich. Unter anderem gehen eine Dokumentation von Abel Ferrara und ein Kurzfilm von Almodóva ins Rennen.
In Venedig zeigen die Promis Corona-Disziplin beim Schaulaufen auf dem Roten Teppich. Unter anderem gehen eine Dokumentation von Abel Ferrara und ein Kurzfilm von Almodóva ins Rennen.
Venedig - Ich habe hier mehr Alkohol auf den Händen, als normalerweise im Bauch“, räsoniert ein skandinavischer Kollege beim kurzen Anstehen am Kinoeingang, wo Einlasskarte oder Handy bezüglich gebuchtem Platz gescannt werden. Er bezieht sich auf die Desinfektionsspender, die in jeder Spielstätte mehrfach vorhanden sind und von denen reichlich Gebrauch gemacht wird. Die Disziplin in puncto Covid-19-Maßnahmen ist hoch, selbst während der Vorstellung kontrollieren die elegant schwarz gewandeten Platzanweiser, dass Mund und Nase von der obligaten Maske bedeckt bleiben.
Nur am Roten Teppich wurden die Vorschriften ein wenig gelockert. Vor der mit Oleander geschmückten Trennwand hat man ein zusätzliches Sperrgitter aufgestellt, hier läuft die Prominenz durch, ehe sie auf den Teppich abbiegt, wo der Gesichtsschutz abgenommen werden darf, um für die Fotografen zu posieren. So können Fans zumindest kurz einen Blick auf ihre Lieblinge werfen, um dann lauthals über deren Look zu diskutieren.
Verwegen war die Gattin von Oliver Stone – der seine Autobiografie „Chasing the Light“ vorstellte – gekleidet. Ihr weißes, bodenlanges Kleid zierte eine gelbe Flitterschleife, die sich vom Fußsaum bis zum Hals um den Körper wand und an mexikanischen Christbaumschmuck erinnerte. „Provocante! Provocante!“ brachte ein italienischer Paparazzo das Outfit von Matilde Gioli („Die süße Gier“) auf den Punkt. Schwarze Slacks trugt sie, High Heels und einen durchsichtigen grauen Schal als Top, der ihren Busen minimal bedeckte und dessen Enden im Hosenbund steckten. Die Kameraverschlüsse klickten pausenlos.
Sicherlich auch weil sich weniger Stars als gewohnt auf dem Lido tummeln. Vornehmlich italienische Filmschaffende weilen vor Ort, etwa Pierfrancesco Favino, der „Ehrenmann“ aus „Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra“ oder Carolina Crescenti („Männer al dente“). Für reichlich Aufregung sorgte die Argentinierin Georgina Rodriguez, hauptberuflich Model, Teilzeitschauspielerin und als Lebenspartnerin von Kicker-König Cristiano Ronaldo regelmäßig in den Schlagzeilen. Eine Folge der Erschwernisse, die die Pandemie mit sich bringt und zum Teil in den gezeigten Produktionen niederschlägt.
So beispielsweise in „Sportin’ Life“ von Abel Ferrara, wie er sagt „eine Dokumentation über das Dokumentarfilmmachen“, teilweise entstanden auf der diesjährigen Berlinale. Ein Schnellschuss, ein wüster Mix, spannend montiert, experimentell gehalten. Verwackelte Handyaufnahmen aus der Notaufnahme eines New Yorker Krankenhauses, Leichen in Plastiksäcken, Clips aus „Pasolini“ und „Siberia“, Interviewsituationen in Hotelzimmern und Bars, ohrenbetäubende Live-Auftritte Ferraras und seiner Rock ’n’ Roll-Band. Ausführlich zu Wort kommt sein Lieblingsdarsteller Willem Dafoe, häufig im Bild ist Töchterchen Anna.
Im Sala Grande wurde das ewige Regie-Enfant-Terrible mit dem Jaeger-LeCoultre Glory to the Filmmaker Award geehrt. Eine lust- und freudlose, knapp 15-minütige Zeremonie mit einem einzigen zugelassenen Fotografen. Zunächst eine kurze Rede von Festivalchef Alberto Barbera, dann die linkische Überreichung des Preises. Schließlich bedankte sich der Filmemacher, angetan mit weißem Dinnerjackett, artig und wies die Zuschauer an, Masken zu tragen: „Weil sich das Virus in geschlossen Räumen besonders leicht überträgt“.
Corona verschlüsselt auch bei Almodóvars „The Human Voice“. Ein 30-Minüter, gedreht während des Lockdowns, frei nach einem Theaterstück von Jean Cocteau. Eine Frau gefangen in ihrer Wohnung. Alleine, von der Umwelt isoliert. Verzweifelt telefoniert sie mit dem Geliebten, der sie verlassen hat. Ein Schaustück voller überbordender Ideen. So stehen im Vorspann Werkzeuge für Buchstaben, die sich zu Namen zusammensetzen. Der Schauplatz: eine durchgestylte Wohnung. Durch sie bewegt sich Tilda Swinton in wechselnden Kostümen und Frisuren. Aufgekratzt, verzweifelt. Zu Festivalbeginn wurde sie mit dem Goldenen Löwen fürs Lebenswerk ausgezeichnet. Zu Recht – wie sie hier beweist.
Ein Könner auch der Iraner Majid Majidi („Das Lied der Sperlinge“), gerne gesehener Gast auf Filmschauen weltweit. Im Wettbewerbsbeitrag „Korshid“ erzählt er vom 12-jährigen Ali, der sich mit seinen drei Kumpels mit kleinen Gaunereien – vom kriminellen Chef gezwungen – durchs Leben schlägt. Bis er den Tipp bekommt, dass unter seiner Schule ein Schatz vergraben sein soll. Eine Oliver-Twist-Variante, ein Jugendabenteuer, mit leichter Hand und temporeich inszeniert. Systemkritik mischt sich mit milder Action. Gewidmet den 152 Millionen Kindern, die arbeiten müssen, um ihre Familie zu unterstützen.
Ein weiterer großer Name im Rennen um den Goldenen Löwen ist Andrei Konchalovsky, der schon dreimal einen Silbernen in Empfang nehmen durfte, zuletzt 2016 für „Paradies“. In „Dorogie Tovarishi!“ widmet er sich einem dunklen, bis 1992 vor der Öffentlichkeit geheim gehaltenen Kapitel sowjetischer Geschichte. In das Jahr 1962 geht es zurück, in ein Elektromotorenwerk in der Kleinstadt Novocherkassk, zu einem blutig niedergeschlagen Streik mit zig Toten. Im Mittelpunkt steht das stramme KP-Mitglied Lyudmilla (stark: Julia Vysotskaya), die an den kommunistischen Idealen zu zweifeln beginnt als ihre Tochter spurlos verschwindet und sie zwischen die Fronten von Politbüro, KGB und Militär gerät. Ein erschütternder Politthriller, schwarz-weiß gefilmt im alten, passend engen 4:3-Format. Eine Geschichtsstunde über Totalitarismus und die Ohnmacht des Einzelnen. Zeitlos gültig.
Beides Sieganwärter. Vielleicht mischt da auch Julia von Heinz mit. Ihre Rechtsextremismusstudie „Und morgen die ganze Welt“ geht noch für Deutschland auf Löwenjagd.
City Hall von Frederick Wiseman (USA): Der inzwischen 90-jährige Pionier des US-amerikanischen Direct Cinema blickt hinter die Kulissen des Rathauses – und somit der Stadtverwaltung von Boston. Wie gewohnt kommentarlos in 275 spannenden, erhellenden Minuten.
Greta von Nathan Grossman (Schweden): Heftig umstrittenes Porträt der zurzeit wohl berühmtesten Klima-Aktivistin. Das Team um den Filmemacher, ehemals Fotograf beim „Rolling Stone India“, hat die junge Kämpferin Greta Thunberg seit ihrem ersten Tag beim Schulstreik begleitet.
Hopper/Welles (USA): Orson Welles („Citizen Kane“) interviewt im Jahr 1970 Dennis Hopper („Easy Rider“). Geredet wird sprichwörtlich über Gott und die Welt. Im Bild zu sehen ist fast ausschließlich Hopper. 130 Minuten lang – und keine Minute langweilig. An der Kamera Gary Graver.
Mandibules von Quentin Dupieux (Frankreich, Belgien): Zwei liebenswerte, unterbelichtete Loser (David Marsais und Grégoire Ludig) finden im Kofferraum eines gestohlenen Autos eine Riesenfliege und wollen mit ihr lukrative Geschäfte machen. Durchgeknallte Komödie, mit viel Szenenapplaus bedacht.