Wer „The Artist“ gemocht hat, sollte sich unbedingt „Blancanieves“ anschauen. Auch dieser neue Stummfilm aus Spanien huldigt intelligent, gefühlvoll und unterhaltsam dem Kino von einst.

Stuttgart - Es hilft nichts, man muss das Problem gleich ansprechen: „Blancanieves“ ist ein Stummfilm in Schwarzweiß aus Spanien, Produktionsjahr 2012. Ein ansehnlicher Teil der Zielgruppe wird jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und stöhnen: „Auch das noch! Darf denn keine originelle Idee mal fünf Minuten unkopiert bleiben?“ Ja, man könnte „Blancanieves“ für einen Trittbrettfahrer des Erfolgs von „The Artist“ halten und ihm höchstens Aufgussqualität zugestehen.

 

Ausnahmsweise aber wäre diese Reaktion ganz und gar verkehrt. Die Idee für „Blancanieves“ liegt fast ein Jahrzehnt zurück. Lange musste der Regisseur Pablo Berger mit seinem Konzept hausieren gehen, bevor die Finanzierung stand. Auch mit dem letztlichen Zustandekommen der Finanzierung hatte „The Artist“ nichts zu tun. Allenfalls dürfte eine Rolle gespielt haben, dass in Hollywood in alte Märchenstoffe viel frisches Geld gesteckt wurde.

Eine neue Schneewittchen-Variante

„Blancanieves“ ist nämlich eine Adaption des Märchens „Schneewittchen“, und was für eine. Ja, es gibt die böse Schwiegermutter noch und auch den Giftapfel, aber der 1963 in Bilbao geborene Berger hat bei der Verpflanzung der Geschichte ins Sevilla der zwanziger Jahre viel Lokalkolorit hinzugefügt. Carmen (Macarena Garcia, eine großartige Neuentdeckung) ist die Tochter eines verunglückten Toreros. Auch sie selbst wird Stierkämpferin, ein Star der Arena.

Damit begibt sich Berger in eine Reizzone. Die Zeiten, in denen wir tolerierten, dass die Tierqualspiele als edler Sport und hehre Mysterienkunst dargestellt wurden, sind vorbei. Spaniens Kleinindustrie des zelebrierten schrittweisen Abschlachtens ächzt mittlerweile auch unter dem Druck der Stierkampfgegner. Berger allerdings schafft es, seinem Film noch einmal Unschuld zu geben, die Naivität einer anderen Ära zu zitieren.

Herrlich aufeinander abgestimmt

Wohlgemerkt, er zitiert, er fleddert nicht. Mit Feingefühl und Chuzpe übernimmt Berger Stilmittel des klassischen Stummfilms, ohne sich im Mummenschanz des Gestrigen zu verheddern. „The Artist“ lag näher am amerikanischen Stummfilm, „Blancanieves“ hat mehr vom europäischen, aber beide Filme zeichnet aus, dass sie stilsicher nie auch nur in die Nähe der unfreiwilligen Parodie geraten.

Pablo Berger schwelgt in den Möglichkeiten, über Körpersprache und Mimik Emotionen und Informationen zu vermitteln, und er führt souverän vor, dass Musik kein die Leere füllendes Geklimpere ist, sondern eine durchgeformte Erzählstimme. Alfonso de Villalongas Komposition und die Bilder des Kameramanns Kiko de la Rica sind herrlich aufeinander abgestimmt. Auch hier finden wir eine Liebesgeschichte, anders als die im Drehbuch verhandelte eine ohne Störungen und Neider.

Blancanieves. Spanien, Frankreich 2012. Regie: Pablo Berger. Mit Macarena Garcia, Angela Molina. 109 Minuten. Ab 12 Jahren.