Walter Mitty ist in der Realität Fotoarchivar. In seinen Tagträumen ist er ein Tausendsassa. Als er ein wichtiges Bild verliert, muss er sich echten Abenteuern stellen. Ben Stiller leistet als Regisseur und Hauptdarsteller ganze Arbeit.

Stuttgart - Bislang kennt Walter Mitty vor allem zwei Daseinsformen: Alltag und Tagtraum. Doch nun muss sich der ebenso nette wie einsame Fotoarchivar beim traditionsreichen US-Magazin „Life“ an eine dritte Existenzform gewöhnen, an den Albtraum. Die Unternehmenssanierer sind da, die forschen Entscheidungsträger, die frei von Ahnung, was „Life“ überhaupt ist, keine Minute daran zweifeln, dass Printmedien tot sind und die einzige Chance im Abspecken auf eine reine Online-Ausgabe mit wenigen Mitarbeitern besteht.

 

Ben Stillers Komödie „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ karikiert die Sanierer und vor allem deren selbstgefälligen Alpharüden Ted Hendricks (Adam Scott aus der Sitcom „Parks and Recreation“) als Bluffer, Zyniker und Sozialdarwinisten. Die Floskeln von Verantwortung und Idealen fallen ihnen aus dem Mund wie dem Springpferd die Dungäpfel aus dem Hintern. Sie sind vergessen, noch bevor der nächste Schritt getan ist.

Besonders Mitty bekommt die Gehässigkeiten von Hendricks zu spüren, denn Walters Selbstschutzmechanismus in Momenten von Stress löst weitere Stresssituationen aus. Der schüchterne Kerl träumt sich spontan weg in Tausendsassafantasien und verfällt dabei in Trance. Seine Mitwelt hat nur noch eine ins Leere stierende Hülle vor sich.

Wo ist nur das Foto hin?

Es geht im Film „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ um die Frage, wie man ermutigende Fantasien und den nötigen Realitätsbezug ins rechte Maß zueinander setzt. Skeptischer gesagt: es geht um die Frage, ob es so ein rechtes Maß gibt. Im Mittelpunkt stehen also nicht die Veränderungen bei „Life“, aber Stillers Film zeigt, dass Unterhaltung eben nicht die Entrückung ins Wolkig-Irreale braucht. Sie kann von der Einbettung ihrer Figuren in reale soziale Spannungen profitieren.

Der globetrottende, jeder Gefahr auf kurze Brennweite aufrückende Fotograf Sean O’Connell (Sean Penn) bildet die Kontrastfigur zu Mitty. Der Hochrisikointimus hat ein ganz besonderes Meisterstück geschickt, das aufs Cover der allerletzten Printausgabe soll. Noch hat niemand dieses Abschiedsbild einer Ära gesehen, da ist es auch schon verloren. Mitty weiß, dass Hendricks ihn dafür verantwortlich machen wird. Er muss die sichere Bunkerschale seines Archivs also verlassen und dem telefonisch nicht erreichbaren Sean ans andere Ende der Welt nachjagen.

Die Liebe der Beschädigten

Natürlich gibt es einen romantischen Handlungsstrang. Walter gefällt die neue Kollegin Cheryl (Kristen Wiig), die wie er im Internet nach der Liebe sucht, aber anders als er Interesse findet. Die Annäherung der beiden verläuft zwar nach den Regeln der Romantic Comedy, ist aber im Detail dezent, frisch und mit Sinn für das Beschädigte und die Beschädigungsangst der Figuren gezeichnet. Der Regisseur und Hauptdarsteller Stiller, der sich bei seiner Suche nach einem Kompromiss zwischen den Bildungsbürgerkomödien Woody Allens und dem Furzkissenklamauk der Multiplex-Massenware oft in Albernheiten verheddert, macht diesmal alles richtig.

„The secret Life of Walter Mitty“, so der Originaltitel, geht auf eine 1939 erschienene Kurzgeschichte James Thurbers zurück, die derart wirkungsstark war, dass Mittys Name für eine Weile in den englischen Sprachschatz überging. 1947 hat Norman Z. McLeod mit Danny Kaye in der Hauptrolle einen Mitty-Film inszeniert, dessen Protagonist als Autor für einen Groschenheftverlag arbeitete. Seine Heldenträume entsprachen dem, was große Männer und kleine Jungs gerne lasen.

Diesen Gedanken greift Stiller auf – nur dass Mitty heute eben in den Bildern eines seltsam infantilen Hollywoods träumt. Die Parodien von erfolgreichen Reißern und Schnulzen sind ihm wunderbar gelungen. Den geborgten Fantasien werden, prächtige, sinnliche Bilder von Mittys Erlebnissen in der realen Welt entgegengestellt, wobei besonders eine wild-romantische Skateboardfahrt durch Islands Natur hervorsticht.

Was ist Wirklichkeit, was Traum?

Angesichts all der Schönheit und Verwegenheit könnte aber auch Misstrauen wach werden. Folgt Stiller hier wirklich dem schlichten Befreiungsmuster, das den träumenden Stubenhocker endlich das süßeste Fruchtfleisch der Realität kosten lässt? Oder rückt gerade die Majestät der Bilder das Ganze ins Irreale? Lernt Mitty gerade lediglich, sich von den Fantasien des Blockbuster-Hollywoods zu lösen und sich im eigenen Kopf edler in Szene zu setzen?

Wer die Bilder, die uns Mittys Aufbruch ins Handeln zeigen, als Realität deutet, der bekommt hier eine witzige, durchkomponierte Edelschnulze über einen Menschen, der sein Leben gerade im Moment des vermeintlichen Zusammenbruchs neu ordnet, Aufbaukino der gutmütigen Sorte also.

Kein Weiterleben mehr für „Life“

Wer diese verstörend grandiosen Bilder für ausgeklügelte Fantasien eines Mannes hält, der sich in einen Kokon der Erfindungen einhüllt, der bekommt einen Film über den Anbruch einer neuen Ära, einer Zeit, in denen die anständigen kleinen Kerle, die Hollywood ein Jahrhundert lang auf der Leinwand von Sieg zu Sieg geführt hat, nicht mehr in die Gänge kommen. Ted Hendricks und seinesgleichen haben nun das Sagen. Und egal, was an Mittys Abenteuern nun Realität und was Fiktion sein mag, das alte „Life“-Magazin wird hier vor unseren Augen abgewickelt.

Das erstaunliche Leben des Walter Mitty. USA 2013. Regie: Ben Stiller. Mit Ben Stiller, Kristen Wiig, Adam Scott, Sean Penn, Shirley MacLaine. 115 Minuten. Ab 6 Jahren.