Der britische Regisseur Ken Loach hat schon oft von kleinen Leuten im Kampf mit Behörden erzählt, aber selten so packend wie in „Ich, Daniel Blake“. Hier kämpft ein kleiner Mann einen aussichtslosen Kampf gegen ein Sozialsystem, das nur noch den Spardruck kennt.

Stuttgart - Daniel Blake ist ein Mensch. Und Daniel Blake ist ein Fall. Diese beiden Eigenschaften lassen sich in Ken Loachs Spielfilm „Ich, Daniel Blake“ nicht miteinander vereinbaren. Und das hat furchtbare Folgen für den arbeitslosen Schreiner aus Newcastle. Mit neunundfünfzig Jahren fühlt der Mensch Daniel Blake sich viel zu jung, um aus dem Arbeitsleben ausgemustert zu werden. Aber nach einem schweren Herzinfarkt ist er noch nicht wieder auf der Höhe. Sein Arzt lässt keinen Zweifel daran, dass die Wiederaufnahme der gewohnten Arbeit Daniel umbringen würde.

 

Für das Sozialsystem aber ist dieser Hilfsbedürftige ein Fall, ein nach Schema, Abhakliste und Grobkategorisierung abzuarbeitender Vorgang. Wobei die Verwandlung des Individuums in einen Statistikteil unter klaren Vorzeichen steht: Man will Daniel Blake schnell draußen haben aus der Zone, in der er Geld kostet, ihn entweder zurück schieben auf den Arbeitsmarkt, dessen Anforderungen er nicht standhalten könnte, oder hinein in jene Zone der Sanktionierbarkeit, in der immer neue Strafabzüge den Fall Blake billiger und billiger und billiger machen.

Im Gereiztheits-Smog der Ämter

Der Regisseur Ken Loach, Jahrgang 1936, ist das vitale Relikt einer Nachkriegsära, in der sich britische Medienmacher als Bundesgenossen der kleinen Leute im Ringen um eine neue, gerechtere Gesellschaft sahen. Bei „Ich, Daniel Blake“ arbeitet Loach wieder wie seit vielen Jahren mit dem Drehbuchautor Paul Laverty Hand in Hand, doch die Vertrautheit drückt sich nie in Routine, Eingeschliffenem oder gar Nachlässigkeiten aus. Energischer, wahrhaftiger, neugieriger auf den realen Schrecken sind die beiden, die sich hie und da schon auch mal ein wenig linke Nostalgie oder wohlfeilen Agitprop durchgehen ließen, selten. Sie ziehen uns hinein in die überfüllten Warteräume abweisender Sachbearbeiter-Gruppenbüros, deren Architektur und Enge, deren Gereiztheits-Smog und Distanzierungsrituale – dem Bittsteller ist der Blick auf die Bildschirme seiner Sachbearbeiterin strengstens verboten – sich zum stummen, aber betäubenden Gebrüll zusammenballen: Du bist hier kein bisschen wichtig!

Dave John spielt den aufrichtigen, verdutzten, sich zum ohnmächtigen Wutmenschen wandelnden Blake mit einer Feinfühligkeit, die den durchaus rauen Mann nicht glättet und striegelt, aber ein wenig durchsichtiger macht. Wir erkennen, dass sich hinter der nicht flexibilitätsoptimierten Sprache dieses Handwerkers ein ausdifferenziertes Gerechtigkeitsgefühl befindet, das die ganze Unverschämtheit, Kaltschnäuzigkeit und Gemeinheit der als alternativlos dargestellten bürokratischen Abläufe akut empfindet. Wir ballen die Faust, wann immer jemand diesem Daniel Blake nicht zuhört, sondern ihm über den Mund fährt, ihn ins Unrecht manövriert, ihn mit Sanktionen bedroht. Will heißen, wir ballen einen Film lang die Faust.

Angst vor menschlichen Regungen

Nicht auf den Einzelfall schauen, die Realität ignorieren, das ist die oberste Maxime eines Sozialapparats, der wichtige Funktionen an private Dienstleister auslagert und in dem die Angestellten selbst wiederum Angst vor ihren Vorgesetzten und Kostencontrollern haben. Ein, zwei menschliche Regungen im Amt, und sie könnten sich auf der anderen Seite ihrer Tische wiederfinden.

Loach erzählt in „Ich, Daniel Blake“ nicht von bösen Individuen, sondern von einem bösen System. Wenn einer auf der Behörde widerspricht, wird er flugs als aggressiv eingestuft und des Raumes verwiesen. Geht er nicht, packt die Security zu. In manchem Loach-Film möchte man bei der Darstellung des Drangsaliertwerdens durch Behörden einwenden, dass das System mit ganz anderen Typen als den Loach-Figuren zu tun hat, dass etwa die Wegnahme eines Kindes manchmal dem Kindeswohl dient und keinen ultimativen Akt der Beraubung der Habenichtse darstellt

Aber hier kommen einem solche Einwände gar nicht, weil Loach und Laverty von einer grundsätzlichen Abwehrhaltung des Systems erzählen: Der Mensch darf nicht hinterm Fall hervortreten, die Realität darf nicht die Abwicklungstechnik zum Stocken bringen, Rechte sollen zugunsten des Budgets weggehobelt werden.

Wo das System nicht hilft

Wo das System nicht hilft, sondern bedrängt, kann immer noch der Mensch den Menschen stützen. Natürlich spielen Loach und Laverty, für die das Wort Solidarität keine Phrase ist, sondern schlicht die linke Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, diese Möglichkeit hier durch. Blake hilft einer jungen Mutter (Kayley Squires), und die hilft durch die Erfahrung des Gebrauchtwerdens und eines verbliebenen Handlungsspielraums auch ihm.

Blake rebelliert auch, sprüht seine Forderung nach fairem (sprich: nicht-kafkaeskem) Umgang mit seiner Notlage außen an die Hauswand der Behörde und beginnt ein Sit-in. Aber Optimismus versprüht dieser Film nicht mehr. Loach und Laverty preisen nicht die großen Reserven der Unteren zur Gegenwehr, sie schildern nun eher ein nicht mehr zu gewinnendes Gefecht auf dem verlorenen Posten der Nachhut.

„Ich, Daniel Blake“ haftete bislang ein Makel an: Dieser Film hat in Cannes dem Publikums- und Kritikerliebling „Toni Erdmann“ die Goldene Palme weggeschnappt. Feige und einfallslos habe sich die Jury für einen Cannes-Veteranen entschieden, war oft zu lesen, statt die Augen für den Nachwuchs zu öffnen. Wahr ist: Auch „Toni Erdmann“ wäre ein würdiger Preisträger gewesen. Aber „Ich, Daniel Blake“, so kann man jetzt mit eigenen Augen sehen, ist einer der besten Filme im großen Werk von Ken Loach, ein erschütterndes Stück sozial engagierten Kinos. Und man sollte das auch mit eigenen Augen sehen.

Ich, Daniel Blake. Großbritannien, Frankreich, Belgien 2016. Regie: Ken Loach. Mit Dave Johns, Hayley Squires. 101 Minuten. Ab 6 Jahren.