Silvi passiert, was halt so vorkommt nach Jahren der Abstumpfung: ihre Ehe zerbricht. Nun will sie einen neuen Partner, was in diesem schönen Film voll unverbrauchter Darsteller zur abenteuerlichen Suche im Wunderland der Triebe gerät.

Stuttgart - Was für ein Auftakt! Nach dem üblichen Wocheneinkauf und fast dreißig Jahren Ehe erinnert sich Michael plötzlich an das gerade gekaufte Bier im Kofferraum, fährt kurz rechts ran, holt sich eine Flasche, öffnet sie, trinkt, lamentiert über das Alltägliche im Ehealltag, dass im schlechtesten Sinne offenbar wirklich alles erwartbar und absehbar sei – und steigt dann einfach aus. Aus dem Auto und aus der Ehe mit Silvi, die ihm konsterniert vom Beifahrersitz aus hinterher sieht.

 

Ums „Ficken“ ginge es ihm dabei überhaupt nicht, hat er noch gesagt. Was so nicht ganz stimmt, wie sich kurz darauf zeigt, als Silvi ihrem Michael noch nachsteigt und ihn mit einer viel jüngeren Blondine sieht. Später, wenn sie sich vom Schock der plötzlichen Trennung erholt hat, wird sie ihm auf den Kopf zusagen, dass er ja ohnehin nie etwas für sie getan habe.

Die Suche nach dem tollen Typen

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben

Doch zunächst steht die 47-Jährige etwas ratlos vor den Trümmern ihrer Existenz und beginnt, von sich zu erzählen. Was zunächst einmal ein Lernprozess, ein Staunen ist, denn Silvi hatte bisher ja nur Michael „gehabt“ und muss sich jetzt neu entwerfen: „Frau, 47, schlank, sucht nach großer Enttäuschung einen tollen Mann.“ So steht es in der Kontaktanzeige, die sie aufgibt. Was sie sich wünsche, wird sie vor laufender Kamera aus dem Off gefragt. „Dass ich mich selbst wieder spüre.“ Das allerdings ist einfacher gesagt als getan, wie sich zeigen wird.

„Junger Tag, ich frage dich / Was ist dein Geschenk an mich? / Bringst du Tränen von gestern zurück / Oder neue Liebe und neues Glück?“, singt Gitte Haenning hier einmal mit dem schönen Effekt, die Figur der Silvi zu erden. Der deutschsprachige Qualitätsschlager als Therapeutikum in der Lebenskrise. Eine gute Bekannte gibt Silvi den Rat, sich einen oder mehrere „Neue“ zu suchen, sich mit denen aber nur außerhalb der eigenen Wohnung zu treffen. In der eigenen Wohnung, das sei ja wohl „Nestbeschmutzung“.

Wunderland der Triebe

Silvi trifft Männer, die ihrerseits Geschichte, Macken und Vorlieben haben. Im Wunderland der Triebe ist nichts so, wie es zunächst scheint. Da ist der charmante und durchaus selbstbewusste Busfahrer, der zum ersten Date seinen Schichtplan mitbringt und erst im Hotelzimmer plötzliche Abzüge bei der „Charmenote“ einfährt: „Ein guter Ficker wird selten dicker!“ Da wird die Frage nach der Festnetznummer plötzlich relevant.

Ärger mit der alles kontrollierenden Ehefrau hat Mann schließlich auch zu Hause, im Hotel sollten doch wohl andere Regeln gelten. Da ist der Zuvorkommende und Höfliche mit seinem Faible für die Fantasie: Augen verbinden, tastend Nähe erkunden. Man könnte sich ja auch einen Raum suchen, um seine gegenseitigen Fantasien auszuleben, so mit Lack und Leder, mit Schmerz und Dominanz.


Silvi staunt nicht schlecht, was für exzentrische Dinge das Liebesleben bereithält. Vielleicht auch noch Drogen? Doch kommt der Punkt, wo die Neugier an eine Grenze stößt, die zu überschreiten das eigene Selbstverständnis dann nicht mehr zulässt. Der dritte Mann immerhin scheint ein echter Glücksfall. Platzt er doch fast vor Glück, als er Silvi kennenlernt. Macht Komplimente, ist euphorisch und ruft seine Liebe buchstäblich in die Welt hinaus, als sei er in einem Film der König der Welt. Silvi, vielleicht überrascht von so viel emotionalem Überschuss, lässt ihn in ihre Wohnung und erlebt am nächsten Morgen eine böse Überraschung.

Das Abenteuer Geschlechterrolle

Nico Sommer, Jahrgang 1983, hat an der Kunsthochschule Kassel Spiel- und Dokumentarfilmregie studiert, und so wundert es nicht, dass ihm in „Silvi“ ein ganz erstaunlicher Hybrid gelungen ist: ein Abenteuerfilm über Geschlechterrollen, Identitäten und diesbezügliche Ungleichzeitigkeiten in der Lebensmitte, versetzt mit semidokumentarischen Szenen mit hohem improvisatorischem Anteil, mal bestürzend seltsam, zumeist hochgradig komisch, dargeboten von unverbrauchten, frischen Darstellern, denen man auch überraschende Wendungen abnimmt.

So ein Mann, so ein Mann

Insbesondere Lina Wendel meistert ihre anspruchsvolle und mitunter auch schmerzhafte Rolle mit einer Intensität, dass man sich manchmal kneifen muss, um sich daran zu erinnern, dass „Silvi“ keine Dokumentation, sondern letztlich schon ein Spielfilm ist. Wir sehen einer Gruppe von Menschen mittleren Alters mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten bei der Arbeit zu, ihre Glücksvorstellungen zu synchronisieren. Was mit fortschreitendem Alter deutlich schwieriger zu sein scheint.

Keine Sorgen um Silvi

Sommer gelingt dabei ein authentischer Blick auf die sich einstellenden Verwerfungen, ohne sich über die Figuren denunziatorisch zu erheben. Songs von Gitte Haenning wie „So schön kann doch kein Mann sein“ weben, wie oben angedeutet, zudem eine latent epische Spur von ironischer Überhöhung und distanzierender Brechung ein.

Um Silvi selber, so viel scheint immerhin klar, muss man sich keine Sorgen machen. Das ist doch schon mal beruhigend. Aber über die Männer in diesem Film müssen wir reden. Dringend!