Das Leben im Kinosaal hat seine Tücken. Doch Erfahrung hilft. Die richtige Hose, der richtige Nebensitzer, und schon macht es Spaß, 23 Filme in acht Tagen zu beurteilen.

Berlin - Um acht Uhr morgens schläft der Glamour noch. Vor dem Berlinale-Palast schleicht eine Kehrmaschine knurrend den Rinnstein entlang, den grauen Februarhimmel hat einer sehr knapp über dem Theaterdach aufgehängt. Der McDonald’s hat schon auf. Aber das Gelübde hält bislang: kein Burger diesmal. An keinem einzigen Festivaltag. Diesmal wird Würde bewahrt. Es ist Tag sechs. Kaffee vielleicht?

 

Durch die Scheibe sehe ich George. Der schreibt für ein kanadisches oder australische Magazin, und vielleicht heißt er auch John, ich hab es vergessen, und nach 15 Jahren „Schön, dich wiederzusehen“ kann man jetzt auch nicht mehr nachfragen. Jedenfalls hat er Hände wie Baggerschaufeln, wie gemacht, um Kollegen zur Begrüßung auf die Schulter zu schlagen. Alles ist dann immer great. Deckung. Kein Kaffee.

George ist da – aber nicht der, der andere.

Zur Stärkung isst er jetzt jedenfalls einen Royal TS. Um diese Zeit. Das erklärt vieles. Vorgestern saß George oder John schräg hinter mir in der Morgenvorstellung. Serviert wurde eine bosnische Politsatire an Zwiebelgeruchschwaden. Zwei Stunden lang. Die olfaktorische Belastung ist das am meisten unterschätzte Berufsrisiko des Festivaljournalisten. Die Berlinale ist ein Schweiß-Leberwurstbrot-Chanel-No-5-Stahlbad. Irgendwas riecht immer.

3000 Reporter, Kritiker, Blogger, Moderatoren sind bei den Filmfestspielen in Berlin akkreditiert. Dazu Filmemacher, Schauspieler, Einkäufer, Kinobetreiber, irgendwelche Kulturmenschen. Alle wollen ins Kino. 434 Filme werden gezeigt, in mehr als einem Dutzend Sektionen. Das Herz des Festivals ist der Berlinale-Palast. Er ist eigentlich ein Musicaltheater, das sich für die 23 Filme des Wettbewerbs in ein Kino verwandelt.

Der Palast führt ein Doppelleben. Irgendwann am Nachmittag, kurz vor vier, beginnt er zu glühen. Drei Gala-Weltpremieren stehen an, die letzte so gegen 22 Uhr. Die Dämmerung senkt sich über den Platz, farbige Scheinwerfer machen die Straße zu einem begehbaren Prisma. Schimmernd erhebt sich der große Bär über dem Haupteingang, über dem roten Teppich. Die Limousinen, die eigentlich nur 100 Meter Luftlinie entfernt am Hinterausgang des Hyatt parken, fahren vor. Die Stars kommen. Emma Thompson mit weißer Nerzstola. Jude Law einfach nur mit seinen Augen. Daniel Brühl mit einer Frau mit einem Ausschnitt. Und natürlich George Clooney.

Die Fans kreischen. Ihre Wangen leuchten rot vor Aufregung. Vielleicht ist es auch die Kälte. Andere A-Festivals finden an Orten wie dem Mittelmeer statt, zu Jahreszeiten, in denen man nicht am liebsten zu Hause in Jogginghosen Serien schaut.

Lars Eidinger lässt die Hosen runter

Die Berlinale ist ein bisschen rauer. Das macht manchen müde und manchen natürlich wild und gefährlich – warum sonst passieren regelmäßig solche Sachen wie zum Beispiel das mit Lars Eidinger, der als einziges deutsches Jurymitglied bei einer Party in der spanischen Botschaft erst Platten auflegte, dann auf den Tisch stieg und die Hose runterließ? Was am nächsten Tag natürlich in der Festival-Ausgabe des „Hollywood-Reporter“ stand, Rubrik „Heat Index“. Mit Pfeil nach unten.

Kinokritiker kriegen, außer auf der Leinwand, in der Regel keine nackten Körperteile bei wilden Partys zu sehen. Das liegt am Doppelleben des Berlinale-Palastes. Jetzt, morgens um acht, hat der rote Teppich Pause. Milchige Folien bedecken die Scheinwerfer. Hier wird gearbeitet.

Von den Filmen im Wettbewerb konkurrieren 18 um den Goldenen Bären, davon sollte man alle gesehen haben, macht drei Filme pro Tag, plus Pressekonferenzen, plus Schreiben. Schafft kein Mensch. Der erste Film läuft um neun Uhr morgens, der zweite gegen zwölf, der dritte am Nachmittag. Manchmal läuft auch nur einer, so wie am Donnerstag, ein achtstündiges Schwarz-Weiß-Epos von den Philippinen.

Im Foyer stehen am Morgen Menschen ohne Smoking, dafür mit Daunenjacken und Hosen, die nach Möglichkeit nicht kneifen. Und mit festen Schuhen. Im Eiswinter 2011 haben dank der berlinischen Schneeräumkunst viele einen Gips als Souvenir mit nach Hause genommen.

Jetzt aber rein. An einem Nebeneingang stehen zwei bleiche Aushilfskartenabreißerstudenten. Ihr Job ist, Journalisten erst nicht und dann doch ins Kino zu lassen. Um halb neun geht die Kordel auf, bis dahin: Schlange stehen. Das ist eine der Hauptbeschäftigungen eines Kinokritikers. Neben dem Meckern natürlich. Und dem Schwärmen.

Wer tagelang nur im Kino sitzt, wird seltsam

Ins Kino passen nur 1800 Leute, viel weniger, als akkreditiert sind. Aber das ist nur ein Grund fürs Warten. Am Mittwoch lief ein dänischer Dogmafilm, „Die Kommune“, in dem ein paar eigentlich sehr sympathische Menschen mit besten Absichten beschließen, in einem sehr großen Haus zusammenzuleben. Ich will nicht zu viel verraten, aber die Sache geht jedenfalls ziemlich schief. Wenn man neun Tage mit fremden Menschen im Kino sitzt, dann wird man seltsam. Prioritäten verschieben sich. Man lebt ja praktisch auf dem Festival. Dazu die Enge. Die Nähe. Die Gefühle. Man wird irgendwie vertraut, wie Fremde in einem Zug mit stundenlanger Verspätung oder sehr alte Bekannte.

Hier drinnen schrumpft alles zusammen auf den Kinokosmos, und man sagt Sätze, die sehr merkwürdig sind, aber in dieser Welt völlig o. k.: „Ich sage dir, so hast du den Holocaust noch nie gesehen“, zum Beispiel, unmittelbar gefolgt von der Frage: „Findest du, man kann Isabelle Huppert fragen, was ihr Lieblingsessen ist?“ Man braucht einen Nebensitzer, der das versteht. Es hängt viel am richtigen Platz. Ob man lieber am Rand sitzt oder in der Mitte, vorne oder hinten. Ob man pünktlich kommt oder zu spät, ob der Nachbar dick ist oder dünn, ob er bei Dunkelheit in sein Smartphone schaut – und vor allem: ob er ein Netz hat, während man selber wegen einer Mail so hibbelig ist, dass man wichtige Teile der Handlung verpasst. Mir ist aufgefallen, dass vor allem die russischen Kollegen immer ein Netz haben. Seit am Mittwoch dieser „Zero Days“ über Cyberkriege lief, macht mich das irgendwie nervös.

Berlinalismus, fortgeschrittenes Stadium. Die Bilder auf der Leinwand, die Geschichten, die Figuren, sie entern den Kopf, sie schleichen sich in einen hinein, manche bleiben hängen, manchmal jahrelang, das entscheiden sie ganz allein. Eine Kollegin hat seit 19 Jahren die Sequenz aus „Rosewood“ von John Singleton im Kopf, als der Ku-Klux-Klan seine Opfer massakriert.

Noch kann niemand wissen, ob von diesem Jahrgang etwas länger bleibt. Seit Tagen jedenfalls habe ich es mit jenem portugiesischen Militärarzt zu tun, der 1971 im Angolakrieg die poetischsten Liebesbriefe schreibt, die es je gegeben hat. Im Kino habe ich aber fast nicht geweint. Das will man einfach nicht neben einem Russen, der immer ein Netz hat.