Die französische Filmregisseurin Agnès Varda ist tot: Sie war eine der großen Eigenwilligen des Kinos.

Stuttgart - Was soll aus dieser Frau bloß werden? Aus dieser Landstreicherin, der Heldin von Agnès Vardas Spielfilm „Vogelfrei“ aus dem Jahr 1985? Die von Sandrine Bonnaire harsch und zart, fragil und risikotauglich Gespielte weiß es selbst nicht. Sie weiß aber sehr genau, was sie nicht will: Sie will sich nicht einfügen in Räume und Rollen, die andere für sie definieren. Wir Zuschauer wissen von Anfang an, wo das enden wird: Der Film beginnt mit dem Auffinden der Leiche der Erfrorenen. Trotzdem ist „Vogelfrei“ kein Werk der tadelnden Mahnung, sondern eine Verbeugung vor dem Unabhängigkeitswillen.

 

Eine Querträumerin

Viele, die diesen Film lieben, sehen in ihm auch eine alternative Autobiografie der Regisseurin Agnès Varda, die nun am 29. März im Alter von 90 Jahren gestorben ist. Varda selbst war eine große Unabhängige, eine undogmatische Querdenkerin und Querträumerin des Kinos, die mit dem seltsamen Ehrentitel „Großmutter der Nouvelle Vague“ wirklich nur windschief beschrieben ist.

Ja, Varda war dabei bei der großen Kinoerneuerung im Frankreich der Fünfziger und Sechziger, beim Abschuppen der Konventionen, beim Ausbruch aus den Klischees, beim Aufrauen der Bilder und Geschichten. Aber sie war eben nicht die Frau, die sich holte, was die Männer schon hatten. Sie war nicht diejenige, die in den Herrenklub der Revoluzzer vordrang. Sie war den Herren – Francois Truffaut, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und vielen anderen – auf eigenen Pfaden längst voraus.

Frisch und widerborstig

Die in Belgien als Tochter eines Griechen und einer Französin Geborene war als Fotoreporterin durch die Welt gereist, bevor sie allmählich zum Film fand, ganz frei von den Theorien, Konzepten, Programmen, die durch die Köpfe jener jungen männlichen Kollegen spukten, die ihre Karrieren meist als sendungsbewusste Filmkritiker begonnen hatten.

Varda wollte Frauen- und Beziehungs- und Reibungsgeschichten erzählen, für die sie vom restlichen Kino gar nicht mehr wissen wollte, als dass dessen Bilder nicht dazu passten, wie sie die Welt, die Gesellschaft, die alltäglichen Machtverhältnisse sah. Und so drehte sie unkonventionelle Filme, die heute noch frisch und aufregend und aufrüttelnd und gesprächsbereit widerborstig wirken. „Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ etwa von 1961, über zwei entscheidende Stunden im Leben einer Frau, die glaubt, an Krebs erkrankt zu sein, wurde zu Recht als Meisterstück gefeiert. Aber wie „Das Glück aus dem Blickwinkel des Mannes“ von 1965 und viele andere ihrer sich nie wiederholenden Werke wurde das kein Kassenerfolg. Zeitweilig bekam Varda auch kleine Projekte nicht finanziert.

Der eigenen Wahrheit verpflichtet

Nie aber hat sie ans Aufgeben gedacht, so wenig, wie sie große Ehrungen – den Goldenen Löwen des Festivals von Venedig für „Vogelfrei“ etwa – allzu ernst nahm. Ihr Status als Außenseiterin war der bis zu seinem Tode 1990 mit dem Regisseur Jacques Demy Verheirateten immer bewusst, sie hat ihn als Gnade der Unabhängigkeit genutzt.

Anders als die Heldin von „Vogelfrei“ konnte sie Freiheit und Selbstschutz verbinden, hat Spielfilme wie „Die Zeit mit Julien“ (1987) und poetische Dokumentarfilme wie „Die Witwen von Noirmoutier“ (2006) geliefert, die auch mal bis zur rührenden Schrulligkeit besonders wurden. Nie waren sie beschwert oder gehemmt vom Produktionsapparat und Gewinnzwang des teuren Kinos, immer wirkten sie nur ihrer eigenen Wahrheit verpflichtet wie Tagebucheinträge. Film als geteilte Intimität, als Einladung an die Welt in den eigenen Kopf – das kann man nicht besser als Agnès Varda hinbekommen.