Ein kleines Mädchen verschollen, ein Pädophiler dringend verdächtig. Aber ist er es wirklich gewesen? Fiona Bartons erster Krimi ist ein gekonntes Spiel mit Ängsten und Vorurteilen – garniert mit einer gehörigen Portion Medienkritik.

Nachrichtenzentrale : Lukas Jenkner (loj)

Stuttgart - Die kleine Bella Elliot verschwindet aus dem Vorgarten ihrer Mutter und bald ist ganz England in Aufruhr. Die Geschichte beherrscht die Titelseiten der britischen Boulevardblätter, und als die Polizei den Kurierfahrer Glen Taylor als Verdächtigen ausmacht, kennt die Medienhetze keine Grenzen mehr. Taylor treibt sich nächtelang in Internetforen für Pädophile herum, schaufelt die Festplatte seines Computers mit Kinderpornografie voll. Doch er leugnet jede Schuld – bis zuletzt: Nachdem er vor Gericht freigesprochen worden ist, wird er schließlich von einem Bus überrollt. Späte Gerechtigkeit?

 

Dass Taylors Alibi bis zu seinem Tode hielt, verdankt er auch seiner Ehefrau Jean, die jahrelang unerschütterlich zu ihrem Ehemann gehalten und an dessen Unschuld geglaubt hat. Aber ist es wirklich so gewesen? Oder treibt Jean Taylor ihr eigenes Spiel? Ist sie womöglich Komplizin? Und welche Rolle spielt die Zeitungsreporterin Kate Waters? Will sie wirklich die Wahrheit erfahren, liegt ihr etwas am Schicksal der kleinen Bella Elliot, deren Mutter Dawn und Jean Taylor, den mutmaßlichen Opfern eines Kinderschänders und kaltherzigen Ehemanns, oder geht es doch nur um die nächste Schlagzeile?

Das blutgierige System der britischen Knallpresse

Auf gut 400 Seiten entfaltet Fiona Barton einen klassischen Whodunit in bester britischer Krimi-Tradition. Indem sie mehrere Zeitebenen mit Cliffhangern und wechselnden Erzählperspektiven geschickt ineinander verschachtelt, gibt sie dem Leser einen meist lückenhaften Wissensvorsprung, der ihn regelrecht dazu zwingt, „Die Witwe“ kaum aus der Hand zu legen. Sehr angenehm und heutzutage fast schon ein erzählerischer Anachronismus: Barton erspart dem Leser explizite Grausamkeiten. Was passiert, muss er sich vorstellen – und das reicht durchaus. Aus den Zeilen dampft die schmierige Perversion wie Mist hervor, ohne dass sie je beschrieben würde.

Gleichwohl stellt Barton eine Welt voller Höllen dar. Das gilt zunächst für das verschollene Kind und dessen Mutter, aber auch für die Taylors, deren vordergründige Musterehe alsbald Risse aufweist, den Polizisten, die sich jahrelang an dem Fall die Zähne ausbeißen und dabei Nerven lassen, und letztlich auch für die Journalistin Kate Waters, die vom blutgierigen System der Knallpresse über die Grenzen des Anstands weit hinaus getrieben wird. An den britischen Medien lässt Fiona Barton kaum ein gutes Haar, und sie wird wissen, wovon sie schreibt: Sie ist preisgekrönte Reporterin und hat jahrelang für Blätter wie den „Daily Mail“ und den „Daily Telegraph“ geschrieben. Heute arbeitet sie als Medientrainerin. „Die Witwe“ ist ihr erster Krimi – und ein ziemlich guter. Von ihr möchte man mehr lesen.

Fiona Barton: Die Witwe. Wunderlich Verlag Reinbek 2016. 432 Seiten, Paperback, 16,99 Euro. Auch als e-Book, 14,99 Euro.