Ein Patient in der Psychiatrie ist aggressiv, droht, wird gewalttätig: Deeskalation hilft nicht, ein Arzt ordnet die Fixierung an. Das Bundesverfassungsgericht soll klären, ob solch eine Maßnahme ohne richterliche Genehmigung gegen das Grundgesetz verstößt.

Karlsruhe - Es geschieht jedes Jahr zehntausendfach in deutschen Psychiatrien: Patienten werden mit Gurten am Bett fixiert, weil sie sich selbst oder andere gefährden. Zwei Betroffene aus Bayern und Baden-Württemberg wollen diesen Eingriff in ihre Freiheit nicht hinnehmen und sind vor das Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe gezogen. Am Dienstag ist darüber verhandelt worden.

 

Der rechtliche Hintergrund ist kompliziert, weil jedes Bundesland ein eigenes Gesetz für die Psychiatrie hat. Grundsätzlich kann nur ein Richter die Freiheit eines Menschen entziehen: Denn das Grundgesetz garantiert die Freiheit der Person in den Artikeln 2 und 104.

Wie gehen Kliniken im Alltag mit dieser Problematik um? In Karlsruhe beschreibt der Ärztliche Direktor des Isar-Amper-Klinikums in München, Peter Brieger, den typischen Fall eines Patienten, der bereits fixiert von der Polizei in eine Klinik gebracht wird - weil er etwa Drogen wie Crystal Meth genommen hat.

Fixierung an sieben Körperstellen sei äußerst selten

„Die sind aggressiv und entfesselt“, berichtet Brieger. Das habe es so vor zehn Jahren noch nicht gegeben. Solche Patienten müssten fixiert werden. „Wenn ich eine Notsituation habe, habe ich keine Zeit zu warten“, sagt der Ärztliche Direktor. Wo solle mitten in der Nacht ein Richter herkommen? Grundsätzlich setzten Pfleger und Ärzte aber immer zuerst auf Deeskalation.

Eine Fixierung an sieben Körperstellen, wie sie im Fall des Betroffenen aus Bayern über acht Stunden angewendet wurde, sei äußerst selten, sagt Brieger. In einem solchen Fall kann der Patient nicht einmal mehr den Kopf bewegen.

Tilmann Steinert von den Südwürttembergischen Zentren für Psychiatrie berichtet von Untersuchungen, nach denen Patienten die Fixierung als demütigend empfunden hätten. Sie hätten Angst und Wut gefühlt. In Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz würden aggressive Patienten eher isoliert als fixiert. Allerdings könnten Patienten das als ebenso belastend empfinden.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, verweist zu Beginn der Verhandlung auf die Schwere des rechtlichen Eingriffs. Die Freiheitsentziehung sei nur in besonderen Fällen gerechtfertigt. Verfassungsrichterin Doris König nennt die Zahl von 17 600 Fixierungen allein in Baden-Württemberg. Diese Maßnahme sei 2016 bei 5300 Patienten angewendet worden.

Bei 1250 Behandlungen 37 Fälle von Fixierung

Der baden-württembergische Sozialminister Manne Lucha (Grüne) betont, im Mittelpunkt des Landesgesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten stehe das Wohl der Patienten. Nach Auffassung der Landesregierung werde der Richtervorbehalt erfüllt. Sicherungsmaßnahmen innerhalb der geschlossenen Unterbringung seien nicht mehr als Freiheitsentziehung zu werten.

In den Kliniken des Landkreises Heidenheim würden Fixierungen soweit wie möglich vermieden, betont Chefarzt Martin Zinkler. Im vergangenen Jahr habe es dort bei 1250 Behandlungen 37 Fälle gegeben. Mit 12 zusätzlichen Pflegestellen könnten seiner Überzeugung nach alle Fälle vermieden werden, sagt Zinkler.

Um gefährliche Situationen und Fixierungen zu verhindern, seien vor allem ausreichend Personal und Platz notwendig, ist auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Arno Deister, überzeugt.

Genereller Richtervorbehalt für die Fixierung?

Die Fachgesellschaft hält eine richterliche Genehmigung für besondere Sicherungsmaßnahmen für grundsätzlich notwendig. Ausnahmen müssten aber zur Abwendung akuter Gefahren für den Untergebrachten selbst, für andere Patienten oder das Personal in den Kliniken möglich sein.

Matthias Seibt vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener lehnt Fixierungen als einschüchternde Gewaltausübung ab. Unbedingt notwendig sei eine Sitzwache, um die Vitalfunktionen zu überwachen, sollte es dennoch dazu kommen. Die zwangsweise Verabreichung von Medikamenten sei als Folter abzulehnen.

Die entscheidende Frage für das Bundesverfassungsgericht dürfte sein, ob es künftig einen generellen Richtervorbehalt für die Fixierung geben soll - möglicherweise innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach einer Notsituation. Bis zu einer Entscheidung vergehen normalerweise mehrere Monate. (2 BvR 309/15 und 2 BvR 502/16)