Stuttgart - Es ist zum Weinen. Eigentlich hätte das Stuttgarter Ballett gerade allen Grund, mit seinem Publikum zu feiern: Vor 60 Jahren legte sein erster Direktor John Cranko den Grundstein zu einem Erfolg, der bis heute immer auch von der Leidenschaft der heimischen Zuschauer befeuert wird. Doch in der Coronapandemie gilt für den Tanz und seine Liebhaber, was für die Liebenden in den großen Stuttgarter Handlungsballetten, sei es Romeo und Julia, Odette und Prinz Siegfried, Marguerite und Armand, Tatjana und Onegin, schon immer bittere Bühnenwirklichkeit war: Sie kommen nicht zusammen.
Raum ist nur für einen Tänzer
Und so würden Ballettfans sicherlich mit Tränen in den Augen verfolgen, was der Künstler Florian Mehnert an diesem Freitag auf der Probebühne der John-Cranko-Schule mit seinem Team inszeniert. Zwei der durchsichtigen Plastikbälle für sein Projekt „Social Distance Stacks“ (frei übersetzt etwa: „Ansammlungen mit Abstand“) wird er hier gleich aufblasen, zwei Meter messen sie im Durchmesser – bieten also gerade Raum genug für einen Tänzer. Luftblasen nennt sie Mehnert, noch liegen sie wie abgestreifte Kokons am Boden. Aber wenn man sieht, wie Hyo-Jung Kang und Adhonay Soares da Silva im Julia- und Romeo-Outfit in die Plastikhäute hineinsteigen, wie die Kugeln mit Laubbläsern prall gefüllt werden, wie sich die Reißverschlüsse mit scharfem Ton schließen und die Tänzer zu Gefangenen machen, dann werden die Bubbles zu Tränen von Shakespear’scher Dimension: geweint von Tanzfreunden, die vor geschlossenen Theatern stehen, geweint von Tänzern, die ihren Beruf nicht ausüben können.
Sehnsuchtsposen werden ausprobiert
Die Motive des Getrenntseins, die innerhalb der nächsten Stunden entstehen, sind eigentlich zum Weinen – und doch ist die Stimmung beim Fotoshooting fast ausgelassen. Sehnsuchtsposen werden ausprobiert und fallen Ballettintendant Tamas Detrich in solcher Fülle ein, dass es für mehr als einen Nachmittag reichen würde. Wie Akrobaten hüpfen die Tänzer in den Kugeln, um sie in die richtige Position zu bringen und um Balancen zu halten. „Es ist toll, dass wir an diesem Projekt teilnehmen können und etwas zu tun haben“, sagt die Erste Solistin Hyo-Jung Kang. Doch bevor die koreanische Tänzerin in die Kugel steigt, vergewissert sie sich bei Florian Mehnert: „Bekomme ich innen auch genügend Luft?“ Die Reißverschlüsse, nur von außen zu öffnen, dichten so gut ab, dass keine Luft entweicht. Der Künstler beruhigt, der Sauerstoff reiche für mehr als eine Stunde: „Nach 15 Minuten beschlägt die Kugel von innen, aber wir lüften vorher durch.“
Ein Gruppenbild tragisch Liebender
Beim Fotoshooting folgen später Elisa Badenes und Friedemann Vogel als Giselle und Albrecht sowie als drittes Paar Anna Osadcenko und David Moore als Odette und Prinz Siegfried, am Ende soll ein Gruppenbild tragisch Liebender entstehen: Die Tänzer des Stuttgarter Balletts geben Florian Mehnerts Corona-Fotoprojekt eine neue, sehr emotionale Ebene. „Schöne Paare, die nicht zusammenfinden, werden zum Symbol für das, was wir gerade erleben. Jedes Foto erzählt eine Geschichte“, nimmt Mehnert das Sehnsuchtsnarrativ auf und sagt: „Mir ging es mit diesem Projekt von Beginn an um zwei wichtige Folgen der Pandemie. Da ist zum einen die soziale Distanz und die damit verbundenen schmerzhaften Einschnitte, zu denen das Virus uns zwingt. Und dann ist da die Verlegung der Kommunikation ins Digitale, was bekanntermaßen bestimmte Effekte erzeugt – einer davon ist die Filterblase.“ Wer im Internet und sozialen Netzwerken unterwegs ist, landet dank Algorithmen, die eine selektive Wahrnehmung fördern, in einer Informationsblase. Nicht umsonst waren Datenschützer die ersten Modelle, die für Florian Mehnert in die Kugeln stiegen. Schauspieler des Freiburger Theaters und die Stuttgarter Philharmoniker folgten.
„Was ist ein Tänzer, der nicht tanzen, ein Musiker, der nicht spielen darf?“, fragt Mehnert und betont mit seinen „Social Distance Stacks“, dass das Performen zur Bühnenkunst gehört. „Wenn sie nicht gesehen wird, ist sie nicht existent.“
Nächste Kunst-Station: ein Schwimmbad
Am Abend packt Florian Mehnert seine Blasen ein, schon am nächsten Tag sind sie nach gründlicher Desinfektion wieder im Einsatz, in einem Hallenbad in Neuenburg am Rhein im Markgräflerland, wo der Künstler in der Nähe lebt, werden sie zu Wasser gelassen. Teilweise geflutet bieten sie Schwimmern einen Pool im Pool und fügen Mehnerts „Social Distance Stacks“ ein neues Kapitel hinzu. Alle im Überblick zu sehen könnte sich zu einem spannenden Blick auf unsere in der Coronazeit gesammelten Erfahrungen summieren; doch noch sucht Florian Mehnert nach einer Ausstellungsmöglichkeit.
60 Jahre Stuttgarter Ballettwunder
In einem besonderen Angebot für unsere Digital-Plus-Abonnenten machen wir die spannende Geschichte des Stuttgarter Balletts lebendig. Im Dialog mit Zeitzeugen und einer jungen Generation wird anschaulich, wie sich die Kompanie an die Weltspitze tanzte und dort hält. Mit diesen Artikelserien feiern wir das Jubiläum des Stuttgarter Balletts:
Als das Wunder wahr wurde Wir haben im Archiv nach Erinnerungen an seinen Erfinder John Cranko gesucht und eine 2007 veröffentlichte Interview-Serie mit Weggefährten des Choreografen entdeckt.
► John Neumeier Bereit für Rebellion und Experimente: Lesen Sie hier John Neumeiers Erinnerungen
► Gundel Kilian Wer einfach drauflos knipste, flog raus: Gundel Kilian erinnert sich
► Richard Cragun Lesen Sie hier, was der 2012 verstorbene Tänzer Richard Cragun über Crankos britischen Geschmack sagte.
► Birgit Keil Lesen Sie hier, wie Birgit Keil zu Crankos „Baby-Ballerina“ wurde.
► Friedrich Lehn Wie Cranko Stau zu Tanz machte: Friedrich Lehn erinnert sich
► Marcia Haydée Lesen Sie hier Marcia Haydées Bericht von ihren ersten Auftritten in Stuttgart.
► Egon Madsen Lesen Sie hier Egon Madsens Erinnerungen an eine besondere Party in New York.
► Georgette Tsingurides Lesen Sie hier Georgette Tsingurides’ Erinnerungen an Zigaretten, Hunde und kleine Feuer im Ballettsaal.
► Fritz Höver Lesen Sie hier, was der 2015 verstorbene Gründer der Noverre-Gesellschaft mit Cranko auf Reisen erlebte.
Forsythe, Kylián und Co Das Stuttgarter Ballett war schon immer eine Kompanie, die Tänzer stark gemacht hat. So stark, dass sie weltweit als Direktoren begehrt sind. Wir haben sie nach ihren Stuttgarter Wurzeln gefragt.
► Ivan Cavallari Sechs Fragen an den Direktor der Grands Ballets Canadiens in Montreal
► Sue Jing Kang Sechs Fragen an die Direktorin des koreanischen Staatsballetts
Weitere Beiträge sind in Vorbereitung.