2300 Menschen waren an Bord des Luxusliners gegangen, der als Auswanderungsschiff gemeldet war. Der Flucht auf die Titanic folgte die Flucht vom Schiff. Die Katastrophe ist heute aktueller denn je.

Stuttgart - Mit ein paar Klicks am Rechner ist es geschafft. Steuerung links, rechts, Hebel der Metalltür aufschieben und nach ein paar Levels ist die Flucht vom Unglücksdampfer, der in der Spiele-App natürlich Titanic heißt, gelungen. Der Anfang der Lösung des Handy-Quizes, das tatsächlich „Escape The Titanic“ heißt, klingt so: „Zu Beginn der Spiele-App guckst du nur auf das Wasser und musst den Pfeil, der nach rechts zeigt anklicken, um in den nächsten Raum zu gelangen.“ Und so weiter und so fort. Die Flucht vom sinkenden Schiff? Ein Kinderspiel.

 

Jeder Junge und jedes Mädchen kennt die Geschichte des großen Dampfers, dem ein Eisberg den dicken, luxuriösen Bauch aufschlitzte und der in weniger als drei Stunden vom Eismeer verschlungen wurde. Überlebt hat die Katastrophe kaum ein Mensch, geboren waren in diesem Moment zahlreiche Legenden. Stoff, der bisher locker für mehr als 14 Verfilmungen und zig Dokumentationen reichte. Wer heute groß wird, verbindet mit der Titanic-Katastrophe vor allen Dingen eine Herz-Schmerz-Schnulze. Daran sind der Regisseur James Cameron und die Schauspieler Leonardo DiCaprio und Kate Winslet schuld.

Der Glaube daran, dass das, was im Jahre 1912 aus der Jungfernfahrt der RMS Titanic wurde, dass dieser Höllentrip, heutzutage nie passieren könnte, und die Flucht heutzutage immer gelänge, treibt allmachtsfantastisch wilde Blüten. Nicht nur Computerspiele setzen sich heute mit falschem Stolz und mit ihren läppischen Links-rechts-Lösungen über eines der tragischsten Schicksale hinweg – längst kann man auch, als vermeintlich alles Überlebender, das letzte Dinner, das es an Bord des Unglücksdampfers gegeben haben soll, mit Hilfe entsprechender Kochbücher nachkochen. Dieses sagenumwobene Dinner, es soll mit Eis beendet worden sein.

Eine Schwimmweste für 80 000 Euro

Im Jahr 2007 wurde im Londoner Auktionshaus Christies eine Schwimmweste einer Überlebenden des Untergangs für 80 000 Euro versteigert. Wird da ein als unsinkbar geltender Goldesel gemolken? Oder sind das wiederum alles nur Ausflüchte, um dem unentrinnbaren Schicksal, das in Gestalt der Todesfalle Titanic unermüdlich durch die kollektive Fantasie schippert, am Ende auch im übertragenen Sinn ein Schnippchen schlagen zu können? Um sich in vermeintlicher Sicherheit zu wiegen?

Durch unser heutiges Wissen kann alles Geschehene in eine fehlerfreie Zukunft geführt werden – dieser Gedanke beflügelte die Menschheit in jeder Epoche. Und so stand am Tag nach der Titanic-Katastrophe im Jahr 1912 in einer Zeitung der Satz: „Jedes Unglück ist die Quelle segensreicher Verbesserungen.“ Als käme es nur auf das an, was auch im gut gezockten Computerspiel zählt: die Technik.

2300 Menschen waren an Bord des Luxusliners gegangen, der als Auswanderungsschiff gemeldet war. Flüchtende waren es schon bei ihrer Reise allesamt. Die Ärmeren in der dritten Klasse, die Unterdrückung, Armut und Arbeitslosigkeit hinter sich lassen, und all die Reichen, die der Langeweile in heimatlichen Gefilden entkommen wollten. Das größte Schiff der Welt – hätten sie sich ein besseres Fluchtfahrzeug vorstellen können?

Geschichten von Helden und Feiglingen

Nur wohin flieht man nun, wenn sich dieses Fluchtfahrzeug als Todesfalle entpuppt? Ins Rettungsfluchtfahrzeug im festen Glauben daran, trotz aller tragischen Umstände bald im besseren Leben anzukommen? Ins todbringende Eiswasser? In den Selbstmord? 1514 der 2224 Passagiere überlebten weder die Flucht mit noch von der Titanic. Zahlen und Untersuchungen belegen, dass der Ehrenkodex „Frauen und Kinder zuerst“ nicht reine Theorie, sondern Realität an Bord war. Selbst an die eherne maritime Regel und Tradition, nach der der Kapitän als Letzter von Bord oder mit seinem Schiff unterzugehen hat, hielt sich Edward John Smith. Er starb beim Untergang der Titanic.

Überlebt haben das Unglück 710 Menschen und ein mit hohem Symbolwert aufgeladener Umstand. Ein Mythos, der sich rund um die Reichen und Schönen an Bord rankt, das unerreichte Land der unbegrenzten Möglichkeiten, die Klassenunterschiede, Geschichten von Helden und Feiglingen, Ehrbegriffe wie „Frauen und Kinder zuerst“, den Kapitän, der pflichtbewusst untergeht, ein Mythos rund um den Fortschrittsglauben und die Technikgläubigkeit, das Versagen der Moderne, um Hybris und Fall.

Die wohl tragischste zivile Katastrophe des 20. Jahrhunderts hat aber viel mehr als Liebesgeschichten und Legendenbildung zu bieten. Sie offenbart vielmehr, wie weit es heute mit der Gesellschaft gekommen ist, wie weit die heutige Gesellschaft verkommen ist. Wie unsouverän wir gut hundert Jahre später im technische Sinne sind, zeigt nicht zuletzt der aktuelle Fall der Fähre Norman Atlantic, auf der gerade noch Menschen an Bord gefangen waren und auf ihre Rettung warteten. Auch die Havarie der Costa Concordia vor knapp drei Jahren hat bewiesen: durch unser heutiges Wissen kann mitnichten alles Geschehene in eine fehlerfreie Zukunft geführt werden.

Helden gibt es nicht mehr

Noch tragischer ist vielleicht, was der Untergang der Titanic außerdem lehrt: Helden gibt es heute nicht mehr. Ritterlichkeit und auf die Sätze wie „Frauen und Kinder zuerst“ bauen gelten längst nicht mehr. Ich-AGs opfern sich heute nicht mehr für die Allgemeinheit auf. Die Konventionen der guten alten Titanic-Zeit brachte noch Helden hervor. Werte, die heute nichts mehr zählen. Heute schleicht sich ein Capitano Schettino noch während der Evakuierung der Costa Concordia wie eine feige Ratte von seinem Schiff. Damit ist auch die Frage beantwortet, wie es um unser Inneres bestellt ist: Basiert die Flucht, in diesem Fall ein Kampf ums Überleben, auf einem konsolidierenden Wertesystem oder wird der Mensch am Ende zum Tier?