Es ist zu einer Massenerscheinung geworden: In China schmuggeln Kader Geld in großen Mengen ins Ausland – und setzen sich dann samt ihrer Familie ab.

Vor einer Woche war Wang Guoqiang noch ein Unbekannter, doch seit wenigen Tagen ist sein Name so berühmt, dass selbst Chinas hochentwickelte Internetzensur es nicht mehr schafft, ihn aus der öffentlichen Debatte zu verbannen. Der ehemalige Parteisekretär des nordostchinesischen Fengcheng soll sich mit seiner Familie und 200 Millionen Yuan (25 Millonen Euro) ins Ausland abgesetzt haben, berichten chinesische Medien. Das Geld stammt aus der Stadtkasse, und viele Chinesen fragen sich nun, wie ein einzelner Beamter in einer rückständigen Provinzstadt unbemerkt eine derart riesige Summe an Geld entwenden kann.

 

Der Fall ist ein Skandal, aber gleichzeitig Teil eines landesweit diskutierten Phänomens: Dass Beamte gewaltige Beträge ins Ausland schaffen und dann mit ihren Familien fliehen, ist so verbreitet, dass es dafür in der chinesischen Umgangssprache sogar einen eigenen Begriff gibt: „Luo guan“ – wörtlich: nackte Kader. Das Lexikon des Internetportals Baidu erklärt die Wortschöpfung damit, dass die Beamten ihre Ehepartner und Kinder häufig schon früh ins Ausland schicken und ganz alleine in China leben, wo sie noch möglichst lange Geld abzusaugen versuchen und hoffen, den richtigen Moment für ihre eigene Flucht nicht zu verpassen. Beliebte Ziele sind dabei die USA, Australien oder Kanada – allesamt Länder, in denen wohlhabende Ausländer leicht Aufenthaltsgenehmigungen erhalten und wo eine Auslieferung nach China so gut wie ausgeschlossen ist.

Milliarden von US-Dollar geraubt

Die Schätzungen, wie viele „nackte Kader“ es gibt, stimmen darin überein, dass es sich um eine Massenerscheinung handeln muss, gehen im Detail aber weit auseinander. Chinas Zentralbank veröffentlichte beispielsweise 2011 einen Bericht, wonach mehr als 120 Milliarden US-Dollar ins Ausland transferiert worden sein sollen. Zwischen Mitte der 1990er Jahre und 2008 seien 16.000 bis 18.000 Kader und Angestellte von Staatsbetrieben ins Ausland geflohen. Die Zahl der Geflohenen beziffert ein Bericht der offiziellen Nachrichtenagentur Xinhua aus dem Jahr 2010 seit Anfang der Achtziger auf lediglich 4000 Kader, die allerdings mit jeweils rund hundert Millionen Dollar getürmt sein sollen. Lin Zhe, Korruptionsexperte der Zentralen Parteihochschule, glaubt indessen, dass weit mehr als eine Million Beamte ihre Ehepartner und Kinder ins Ausland geschickt haben und von China aus mit Geld versorgen.

Behörden vertuschen den Skandal

Dass Wangs Fall nun besonders die Gemüter erregt, liegt nicht nur an der hohen Summe, sondern auch daran, dass die Behörden den Skandal lange zu vertuschen versuchten. Die Geschichte ist in vieler Hinsicht typisch: Der 52-Jährige hatte vor zwei Jahren einen privaten Pass beantragt, um zur Universitätsabschlussfeier seiner Tochter in die USA reisen zu können. Normalerweise haben chinesische Beamte Dienstpässe, mit denen sie nicht ohne weiteres persönliche Reisen ins Ausland unternehmen können. Wangs Passantrag soll deshalb eine interne Untersuchung ausgelöst haben, woraufhin er den Flug zu der Abschlussfeier offenbar abgesagt habe. Seinen Privatpass erhielt Wang später allerdings trotzdem, und am 24. April flog er mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten. Seitdem ist er verschwunden.

In Fengcheng hegte man schnell Verdacht. Schon vier Tage nach seiner Abreise nahm das Disziplinarkomitee Ermittlungen auf. Sein Name wurde aus allen Regierungswebseiten gelöscht. Am 15. August erfolgte der formelle Ausschluss aus der Kommunistischen Partei. Erst danach kam die Sache an die Öffentlichkeit. Zwar erließen die Propagandabehörden umgehend ein Verbot, über den Fall zu berichten, doch in Mikroblogforen verbreitete sich die Nachricht schneller, als die Zensoren sie löschen konnten. Schließlich nahmen auch die Staatsmedien zu dem Fall Stellung. „Fengchengs Regierung hätte nicht warten dürfen, bis die Medien diese Affäre ausgraben“, schrieb die Zeitung „Global Times“. „Wang Guoqiangs Flucht ist zwar ein Skandal, aber so etwas lässt sich nicht verstecken.“ Die parteiunmittelbare „Volkszeitung“ forderte im eigenen Mikroblogdienst, dass Kader stärker überwacht werden müssten: „Dieser Fall hat gezeigt, das die Kontrolle sogenannter ‚nackter Kader‘ große Lücken aufweist.“