Sie bleiben länger, reisen langsamer – und sind verzweifelter: Die in den Anrainerstaaten der Balkanroute gestrandeten Flüchtlinge plagen zunehmend Depressionen, Stress- und Angstzustände.

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Belgrad - Entschlossen blickt Saud Khan von seinem Stockbett auf die weiße Wand. Das Ziel seiner 19-monatigen Odyssee scheint in weite Ferne gerückt, aber dennoch hält der Afghane eisern daran fest. „Ich will in mein Land zurück – nach England“, wiederholt der 25-Jährige im Auffanglager im serbischen Obrenovac gebetsmühlenhaft. Als die Taliban 2009 seinen Vater getötet hätten, sei er aus seinem nordafghanischen Heimatort Baghan geflohen, berichtet er niedergeschlagen. Ein Jahr habe er damals benötigt, um nach Großbritannien zu gelangen. Fünf Jahre lang habe er in Gloucestershire gewohnt, bevor er nach Ablehnung seines Asylgesuchs abgeschoben worden sei. Doch zurück in seinem afghanischen Dorf hätten ihm die Gefechte und erneute Todesdrohungen der Taliban keine Ruhe gelassen: „Ich fühlte mich nie sicher.“

 

Ein Onkel gab ihm das Geld, um 2016 die erneute Flucht zu wagen. Mit gequältem Gesichtsausdruck berichtet Saud über raffgierige Schlepper, Todesängste bei sturmumtosten Schiffspassagen, Schläge von Grenzern und islamistischen Landsleuten, Abschiebungen und Angstträumen. Spricht er über die Erlebnisse seiner ersten oder zweiten Flucht? Sprunghaft lässt er sein Flüchtlingsleben Revue passieren. Er sei durcheinander, sein Gedächtnis funktioniere nicht mehr richtig: „Ich träume oft, dass sie mich verfolgen.“ Sein Leben sei ruiniert, seufzt Saud: „Wer würde in einer solchen Lage nicht verrückt werden?“

Mindestens 20 Flüchtlinge pro Tag kommen nach Serbien

Bis zu 14 000 Menschen pro Tag waren auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise auf der sogenannten Balkanroute im Herbst 2015 unterwegs. Von einem der Anrainerstaaten aus ging es mithilfe der Europäischen Union von den griechischen Ägäisinseln bis Österreich auf dem „Korridor“ in Richtung Westen. Die offizielle Schließung im März 2016 und die verstärkten Grenzbarrieren haben die Zahl der Transitmigranten in den Anrainerstaaten zwar deutlich reduziert, den Andrang allerdings keineswegs ganz versiegen lassen.

Flüchtlinge würden noch stets kommen und gehen, „allerdings in kleinerer Zahl“, sagt im serbischen Belgrad Rados Djurovic, der Direktor der Hilfsorganisation Zentrum zum Schutz für Asylsuchende. Auf mindestens 20 Menschen pro Tag beziffert Djurovic die Zahl der Flüchtlinge, die meist von Bulgarien, aber auch von Mazedonien nach Serbien gelangten. Zwar gebe es noch immer Menschen, die dank ihrer Mittel und Schlepper „relativ schnell“ durchs Land ziehen würden: „Doch vor allem Minderjährige und Familien ohne Geld hängen immer länger fest. Sie sind oft orientierungslos, wissen nicht mehr, was sie tun sollen und wie ihre Zukunft aussehen könnte. Und ihr psychischer Zustand ist meist sehr schlecht.“

„Je mehr der Mensch wartet und über seine Lage nachdenkt, desto nervöser wird er“

Laute Beatrhythmen und der Geruch von Schweiß dringen aus dem Kraftraum. „Viel Energie“ gebe es in dem fast ausschließlich von jüngeren Männern unter 30 Jahren bewohnten Auffanglager in Obrenovac, erzählt Lagerleiter Sava Rakic: „Je mehr der Mensch wartet und über seine Lage nachdenkt, desto nervöser wird er.“ Doch obwohl die durchschnittliche Verweildauer der rund 700 Menschen im Lager mittlerweile vier bis fünf Monate betrage, sei es noch zu keinen nennenswerten Zwischenfällen gekommen.

Manche seiner Schützlinge, die meist aus Afghanistan, Pakistan und Somalia stammen, blieben nur wenige Tage und Wochen, andere hätten schon 25 Mal ohne Erfolg versucht, die Grenzen nach Kroatien, Ungarn oder Rumänien zu überwinden, sagt Rakic: „Sie werden gefasst, geschlagen und abgeschoben. Sie lassen sich hier von den Ärzten behandeln, ruhen sich ein wenig aus – und versuchen es erneut: Die meisten kommen von den Grenzen wieder zurück, manche aber auch nicht. Es gibt noch immer einen Durchzug.“

Einheitlich ist das Bild an der Balkanroute nicht

Zwar haben sich die Flüchtlingszahlen an der Balkanroute – die sich ständig ändert – stark reduziert. Einheitlich ist das Bild aber keineswegs. So wird auf den griechischen Ägäisinseln in den letzten Wochen wieder ein verstärkter Andrang registriert: Eineinhalb Jahre nach Schließung des Korridors bei Idomeni hat sich die Zahl der in Griechenland gestrandeten Flüchtlinge mit 60 000 kaum vermindert.

Stark rückläufige Flüchtlingsanzahlen werden hingegen in Bulgarien vermeldet, wo die neue rechtsnationalistische Regierung den Ausbau des Grenzzauns zur Türkei zu einer ihrer Prioritäten erklärt hat. Offiziell würden sich nur noch 2200 Flüchtlinge auf bulgarischem Territorium befinden, hieß es im September. Während die Zahlen in Rumänien leicht steigen, sind sie in Serbien mit 4000 Flüchtlingen in Lagern und knapp 1000 Menschen, die unter freiem Himmel oder in leer stehenden Häusern biwakieren, etwas geschrumpft.

„5000 Leute sind eigentlich nicht viel“, sagt der Direktor der Hilfsorganisation

Im Gegensatz zu Ungarn oder Bulgarien gebe es in Serbiens Regierung keine offen fremdenfeindlichen Kräfte, so Djurovic. Doch obwohl die Mehrheit der Flüchtlinge zumindest mit Unterkunft und Nahrung versorgt werde, gebe es kaum staatliche Anstrengungen, die immer länger im Land verweilenden Flüchtlinge dauerhaft zu integrieren. In diesem Jahr seien erst zwei Asylanträge positiv beschieden worden: „5000 Leute sind eigentlich nicht viel. Deren schlechte Integration hat nicht nur mit dem Mangel an Mitteln, sondern auch mit Unfähigkeit und dem Mangel an politischem Willen zu tun.“

Im Hof der einstigen Kaserne in Obrenovac messen Pakistani ihre Cricket-Künste. Im Unterrichtssaal versucht eine Lehrerin, einigen Schülern Grundkenntnisse in Serbisch zu vermitteln. „Wir drängen ihnen die Sprachkurse oder Sportaktivitäten nicht auf, bieten ihnen das nur an, um ihren Tag zu füllen“, sagt Rakic: „Die Leute haben schließlich alle Zeit der Welt.“

Der Lagerpsychologe sieht Stress und Erschöpfung als Grund für „depressive Anstzustände“

Ihre Patienten seien „oft eher nervös als dankbar“, sagt die Lagerärztin Ljiljanka Filipovic: „Alle haben es eilig, weiterzukommen: Selbst zehn Minuten Warten fällt ihnen schwer, auch wenn sie monatelang hier festhängen.“ Nicht nur Verletzungen bei „Schlägen mit stumpfen Gegenständen“ habe sie bei den Rückkehrern von den Grenzen zu behandeln: „Oft sind weniger die Schläge der Grenzer die Ursache für ihren schlechten Zustand als die Folgen der Unterkühlung und Entbehrungen ihres tagelangen Aufenthalts in den Wäldern.“

Stress und psychische Erschöpfung macht der Lagerpsychologe Nenad Kalabic als Grund für „depressive Angstzustände“ seiner Patienten aus: „Manche kommen auch mit Problemen zu uns, die ihnen schon vor ihrer Flucht zu schaffen machten.“ Zumindest der 19-jährige Dalmar aus dem somalischen Mogadischu scheint sein zweijähriges Flüchtlingsmartyrium relativ gut verkraftet zu haben. Seinen 18. Geburtstag habe er auf der griechischen Insel Lesbos, seinen 19. Geburtstag in Obrenovac gefeiert, berichtet der Abiturient mit einem Lächeln. Er habe während seiner mittlerweile acht Monate in Serbien schon mehrmals versucht, die Grenzen nach Kroatien, Ungarn oder Rumänien zu überqueren. Vor allem an der ungarischen Grenze gebe es „viel Technologie“ und bissige Hunde, schildert er seine Erfahrung: „Immer, wenn wir den Zaun überquerten, waren sie sofort da, schlugen uns übel zusammen.“

Der Lagerleiter kam vor 27 Jahren selbst als Flüchtling von Kroatien nach Serbien

Geld für die geplante Weiterreise zu den Schwestern nach England habe er keines mehr, er wolle sich im Winter erst einmal „ausruhen und dann im Frühjahr weitersehen“, so Dalmar. Viele Lagerinsassen hätten „psychische Probleme“, berichtet der Hobby-DJ: „Alle wollen ein besseres Leben. Doch manche hängen hier auch mental völlig fest.“ Obwohl er sich ein paar Worte Serbisch angeeignet hat, verschwendet er an einen dauerhaften Verbleib in Serbien ebenso wenig Gedanken wie an eine Rückkehr in das bürgerkriegsgeplagte Somalia. „Die Leute hier sind okay und behandeln uns gut. Aber Serbien hat selbst nicht genug, um uns wirklich zu helfen.“

Vor 27 Jahren kam Lagerleiter Rakic selbst als Flüchtling aus Kroatien nach Serbien. Zunächst betreute der Ökonom dort Vertriebene der Jugoslawienkriege, nun Flüchtlinge aus aller Welt: „Manchmal sagen sie mir: Du weißt nicht, wie das ist, auf der Flucht zu sein. Ich sage ihnen, ich habe selbst alles zurückgelassen.“ Er hat nicht das Gefühl, dass sich seine Schützlinge mit dem Los eines längeren Verbleibs in Serbien abfinden könnten: „Alle wollen weiter, meist nach Deutschland oder nach Italien. Sie hoffen, dass sich dort alle ihre Probleme lösen werden. Denn auch auf der Flucht stirbt die Hoffnung zuletzt.“