Warschau - Ein Mann ruft „Dawaj“. Dann fällt ein Schuss. Das polnische Verteidigungsministerium veröffentlicht am Mittwoch ein kurzes Video, das zeigen soll, wie belarussische Soldaten Warnschüsse abgeben. Angeblich um Migranten einzuschüchtern. Doch ist das so? „Dawaj“ ist zwar Russisch und heißt so viel wie „Los, macht!“ Aber der Schütze steht diesseits des Nato-Drahtes, den polnische Soldaten an der Grenze ausgerollt haben. Die Geflüchteten harren aber jenseits des Zauns aus. Ruft hier also ein Pole „Dawaj“ und schießt, um belarussische Soldaten der Aggression beschuldigen zu können? Das Video lässt viele Fragen offen, und unabhängige Beobachter dürfen sich in der abgeriegelten Zone noch immer kein eigenes Bild machen. Sicher ist nur, dass im Niemandsland inzwischen geschossen wird.
Die Rede ist vom „hybriden Krieg“
Dazu passen die martialischen Töne aus Warschau und Minsk. Hier wie dort ist kaum noch von einer Migrationskrise die Rede, sondern von einem „hybriden Krieg“. Von Angriffen mit nicht-militärischen Mitteln. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko tönt: „Sie [die EU-Politiker] haben Sanktionen verhängt und einen hybriden Krieg angezettelt. Und diese Bastarde, diese Verrückten wollen, dass ich sie vor Migranten beschütze?“ Lukaschenko sagt das in einem Interview mit der Moskauer Militärzeitung „Nationale Verteidigung“. Er versichert zwar, die Atommacht Russland nicht in den Konflikt hineinziehen zu wollen. „Aber wir werden nicht in die Knie gehen“, kündigt er an und mahnt: „Zu den Waffen zu greifen, bedeutet in der modernen Welt den Tod. Das ist Selbstmord.“
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Polnische Politiker sind kaum weniger zimperlich in ihrer Wortwahl. Vor allem die rechtsnationale PiS-Regierung rührt seit Tagen die Kriegstrommel. Premier Mateusz Morawiecki beschuldigt den russischen Präsidenten Wladimir Putin, Belarus zur Manövriermasse seiner „imperialen Politik“ zu machen. Im Parlament erklärt er: „Lukaschenko ist nur der Vollstrecker. Der Auftraggeber ist Putin. Er ist entschlossen, das Russische Reich wieder aufzubauen. Wir Polen werden Widerstand leisten.“ Und dann erinnert Morawiecki an die „prophetischen Worte“ des früheren Präsidenten Lech Kaczynski, der 2010 bei der Flugzeugkatastrophe in Smolensk starb. „Heute Georgien, morgen die Ukraine, und später kommt auch mein Land an die Reihe“, hatte Kaczynski während des russisch-georgischen Krieges 2008 bei einem Besuch in Tiflis gesagt.
Merkel ruft bei Putin an
Ist nun also, sieben Jahre nach der russischen Krim-Annexion, Polen an der Reihe? In Brüssel und Berlin hält man die Rufe aus Warschau nach Nato-Unterstützung für übertrieben – angesichts von wenigen Tausend Migranten an der Grenze. Angela Merkel unternimmt am Mittwoch einen Vermittlungsversuch. Die Bundeskanzlerin ruft bei Putin an und bittet ihn, mäßigend auf Lukaschenko einzuwirken. Die Instrumentalisierung von Migranten nennt sie „inakzeptabel“. Putins Sprecher Dmitri Peskow betont dagegen, die belarussischen Behörden handelten „verantwortlich“.
Unterdessen bemüht sich EU-Ratspräsident Charles Michel bei einem Besuch in Warschau, beruhigend auf Morawiecki einzuwirken. Die ganze EU stehe „solidarisch an der Seite Polens“, sagt er. In Brüssel werde unter Hochdruck an neuen Sanktionen gearbeitet.
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Doch in Warschau setzt man lieber auf eigene Stärke. Am Mittwochmorgen teilt Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak seinen gerade erwachten Landsleuten mit: „15 000 Soldaten schützen unsere Grenze und verteidigen das Vaterland gegen die Angriffe des Lukaschenko-Regimes.“ Es sei allerdings eine „unruhige Nacht“ gewesen, räumt er ein. Gemeint sind mehrere „Durchbrüche“ von Migranten in der Region des Bialowieza-Urwalds. Dort überwinden in der Nacht rund 300 Schutzsuchende die Sperranlagen. Die Grenzpolizei teilt später mit, dass alle „illegal Eingereisten“ zurückgeführt worden seien. Von der humanitären Katastrophe, die sich an der EU-Außengrenze abspielt, spricht die polnische Regierung bestenfalls in Nebensätzen.
Dabei ist die Lage angesichts des eisigen Novemberwetters dramatisch. Nachts fallen die Temperaturen regelmäßig unter die Frostgrenze. Hinzu kommen die Feuchtigkeit der sumpfigen Waldregionen und teils schneidende Winde. Polnische Behörden erklären, dass der belarussische Grenzschutz alle Versuche unterbinde, die Geflüchteten mit Essen, Getränken, warmer Kleidung und Thermoschlafsäcken auszurüsten. Stattdessen gebe es eine inszenierte Versorgung vor den Kameras des eigenen Staatsfernsehens. Sobald die Kameras abgeschaltet seien, gebe es auch kein Essen mehr. Allerdings versperrt der polnische Grenzschutz seinerseits allen Hilfsorganisationen den Zugang zu den Notleidenden, sogar dem Roten Kreuz. Der polnische Vizeaußenminister Marcin Przydacz erteilt allen Hoffnungen, Lukaschenko könnte wegen des nahenden Winters ein Einsehen haben, eine Absage: „Darauf deutet nichts hin.“
Polen befürchtet Schlimmeres
Im Gegenteil. Der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Andrzej Duda, Pawel Soloch, erklärt, die Krise werde sich „ohne jeden Zweifel“ in den nächsten Tagen fortsetzen und vermutlich sogar verschärfen. Warschauer Medien berichten unter Berufung auf Geheimdienstkreise, dass vor allem der polnische Nationalfeiertag an diesem Donnerstag als kritisches Datum gilt. Lukaschenko könnte den Tag nutzen, um neue Zusammenstöße wie zu Wochenbeginn bei Kuznica zu provozieren, als polnische Polizisten Tränengas gegen Migranten einsetzten. Dazu passen Berichte in oppositionellen belarussischen Nachrichtenkanälen. Demnach haben sich weitere große Gruppen von Migranten aus Minsk auf den Weg Richtung Grenze gemacht.