Der Flüchtlingsansturm bringt die Landkreise in der Region Stuttgart an ihre Grenzen. Aus Sicht des Esslinger Landrats ist alles Machbare definitiv ausgereizt. Für diese Worte erntet er Versändnis von seinen Amtskollegen – und der Integrationsministerin.

Stuttgart - Baden-Württembergs Integrationsministerin Bilkay Öney gibt zu, dass die Situation im Kreis Esslingen angesichts hoher Flüchtlingszahlen „schwierig“ sei. Der dortige Landrat Heinz Eininger hatte in einem Brandbrief an Öney angekündigt, dass der Landkreis von Mitte Oktober an keine weiteren Menschen aufnehmen werde. Die Esslinger Lage werde Thema auf dem Flüchtlingsgipfel am Montag sein, den Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) einberufen hat. Bei allem Verständnis: „Ein totaler Aufnahmestopp ist aber auch keine Lösung“, kommentiert Öney Einingers Vorgehen. Auch das Land müsse die Flüchtlinge aufnehmen, die ihm nach dem Königsteiner Schlüssel zugeteilt werden. Daher brauche es „noch mehr Solidarität zwischen Kreisen und Kommunen“.

 

Scharfe Kritik am Esslinger CDU-Landrat kommt von den grün-roten Landtagsabgeordneten aus dem Kreis Esslingen. Die Grünen Andrea Lindlohr und Andreas Schwarz und Wolfgang Drexler (SPD) bezeichnen das von Eininger angezettelte „Eskalationsszenario“ als „vollkommen inakzeptabel“. In ihrem Schreiben heißt es, dass die Lage in diesem Landkreis auch deshalb so problematisch sei, „weil die Zusammenarbeit zwischen Kreis und Gemeinden schlechter zu sein scheint als in vergleichbaren Landkreisen im Ballungsraum“.Einingers angekündigter Aufnahmestopp löste am Donnerstag bundesweit ein gewaltiges Medienecho aus. Die Pressestelle des Landratsamts sah sich mit zahlreichen Anfragen auch von überregionalen Zeitungen sowie Fernsehsendern und Radioanstalten konfrontiert. Eininger verteidigte seinen Vorstoß und betonte: „Eins ist klar, die Leute sind ja nicht aus Jux und Tollerei hier. Unser Ziel muss eine menschenwürdige Unterbringung sein.“ Fakt sei aber auch, „dass wir dazu in einem der am dichtesten besiedelten Landkreise weder die Flächen haben noch die Gebäude“.

Im Kreis Esslingen ist „keine Idee ungeprüft geblieben“

Im Brief an Öney hatte der Kreischef erklärt, dass in den vergangenen Monaten „eine große Zahl von Asylbewerbern durch eine Fülle an Einzelmaßnahmen und kreativem Verwaltungshandeln untergebracht“ worden sei. Keine Idee sei ungeprüft geblieben, alle geeigneten Liegenschaften seien „bis zum Rande der Funktionsfähigkeit der Verwaltung“ eingesetzt worden, die Vorschriften für die Errichtung von Unterkünften bis an die Grenze des Vertretbaren ausgereizt.

Der im Bundesrat ausgehandelte Asylkompromiss, der die Balkanstaaten Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als sichere Herkunftsländer einstuft, ist für Eininger ein lange erwarteter Schritt in die richtige Richtung: flankierend müsse die Politik aber mehr Druck auf diese Länder machen: „Ein Viertel unserer Asylbewerber kommt von dort.“ Im Kreis Esslingen sind derzeit rund 1400 Asylbewerber untergebracht; bis Ende des Jahres sollten es 1900 werden. Allerdings gibt es nur noch 60 Unterkunftsplätze. 650 weitere sind im Stadium der Vorplanung. Sie werden wohl erst Mitte 2015 zur Verfügung stehen.

Die Stadt Stuttgart will Einingers Vorstoß eigentlich gar nicht kommentieren: „Dass es trotz höchster Anstrengungen eine Situation gibt, in der man sich nicht anders zu helfen weiß, ist höchst bedrückend“, sagte Stefan Spatz, stellvertretender Leiter des Sozialamts. Der Esslinger Schritt mache es aber „für den Rest der kommunalen Familie nicht leichter“. In Stuttgart leben aktuell 2232 Flüchtlinge, die derzeit 2559 Plätze reichen laut Spatz bis ins Frühjahr 2015 aus. Allerdings bereitet das Rathaus die nächste Ausbauphase vor. Derzeit gibt es 67 Unterkünfte in 16 Stadtbezirken.

Auch im Kreis Ludwigsburg ist „die Not groß“

Beistand bekommt Eininger aus dem Ludwigsburger Landratsamt. Seine Warnung sei nachvollziehbar und zeige, „wie groß die Not ist“, sagt Jürgen Vogt, der Leiter des Ordnungsdezernats. Auch in seinem Kreis seien schon jetzt alle Plätze in den Gemeinschaftsunterkünften belegt. Seit Wochen müssen etwa 60 Flüchtlinge in einer Gewerbehalle in Asperg wohnen, weil keine anderen Kapazitäten mehr vorhanden sind. „Irgendwann kommen wir an unsere Grenzen, denn wir können die Menschen ja nicht unter Brücken schlafen lassen“, sagt Vogt. 1700 Flüchtlinge leben im Kreis Ludwigsburg, vor einem Jahr waren es 1000. Pro Monat bekommt das Landratsamt rund 200 neue Asylbewerber zugewiesen. Auch die Finanzierung werde zunehmend problematisch, sagt Vogt, weil die vom Land gezahlte Pauschale pro Bewerber die Kosten längst nicht decke. Dies müsse dringend neu geregelt werden. Auch über Änderungen des Baurechts müsse nachgedacht werden. Dass es bislang nicht möglich sei, Unterkünfte in Gewerbegebieten zu errichten, raube den Kreisen und Kommunen jegliche Spielräume.

Verständnis für seinen Esslinger Kollegen hat auch der Böblinger Landrat Roland Bernhard. Kapazitätsprobleme drohen auch seinem Kreis. Bernhard fordert vom Land eine größere Flexibilität bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Dazu gehöre, dass das Land die Erstaufnahmekapazitäten erhöhen müsse. Auch die Landesaufnahmestellen müssten über einen „ausreichenden Puffer“ verfügen, dass Flüchtlinge dort auch mal bis zu sechs Monate bleiben könnten.

Der Kreis Böblingen hat 646 Plätze für Flüchtlinge. In den Unterkünften leben jedoch – Stand Ende September – 696 Männer, Frauen und Kinder. „Wir nutzen jeden Platz“, sagt Dusan Minic, der Sprecher des Landratsamtes. Im Notfall werde noch ein Bett zusätzlich in ein Zimmer gestellt oder eine Familie bekomme nur zwei statt drei Zimmer zugewiesen. Weitere Unterkünfte mit Platz für 250 Menschen sind in Planung. „Das wird nicht ausreichen“, sagt Minic. Der Kreis geht davon aus, dass er im kommenden Jahr 1300 Plätze für Flüchtlinge benötigt.

Dem Göppinger Landrat missfällt Einingers Vorstoß

Verteilt auf 13 Unterkünfte beherbergt der Rems-Murr-Kreis derzeit 1216 Asylbewerber. Noch reichen die Kapazitäten mit einer Reserve aus. Doch wenn die Prognose eintrifft, dass bis Jahresende weitere 386 Plätze benötigt werden, fehlen 333 Unterkünfte. Der Landrat hat außer den Großen Kreisstädten längst auch die größeren Gemeinden zur Mithilfe aufgerufen. Dem Göppinger Landrat Edgar Wolff missfällt das Vorgehen seines Esslinger Kollegen. „Ich kann gut verstehen, dass Herr Eininger im Anbetracht der dramatischen Lage im Kreis Esslingen ein Signal setzen möchte“, sagt er: „Ich weiß aber nicht, wo das hinführen soll. Wer soll die Flüchtlinge denn sonst übernehmen?“ Auch im Kreis Göppingen werde die Situation „zunehmend prekär“, betont Wolff: „Wir machen uns Sorgen und sind allmählich hilflos.“ Ende August hatte der Kreis 536 Flüchtlinge bei 499 Plätzen. Allein im Oktober bekam der Landkreis weitere 95 Flüchtlinge zugewiesen – doppelt so viele wie noch im Juli. Momentan sei noch unklar, wo sie untergebracht werden – es müssten eben bestehende Quartiere weiter überbelegt werden. Zudem stehe der Kreis kurz davor, ein Hotel oder – wie Esslingen – eine Schulturnhalle zu belegen. Dafür kämen allerdings nur die beruflichen Schulzentren in Frage, weil sie dem Kreis gehören.

Denselben Schritt wie Eininger will Wolff nicht gehen. Für ihn stehe der humanitäre Charakter im Vordergrund. Die Menschen hätten Schreckliches erlebt: „Darum müssen wir uns weiter bemühen, das Unmögliche möglich zu machen.“ Von den 38 Kommunen im Kreis Göppingen haben bisher nur 18 Gemeinschaftsunterkünfte geschaffen. Dass sie mauern, will Wolff nicht behaupten: „Aber wenn die Gemeinden wie früher für die Flüchtlingsunterbringung zuständig wären, wären sie verpflichtet, etwas zu tun.“