Europa ist für viele Menschen aus den Armutsstaaten Afrikas und Osteuropas der Ort der Verheißung. Auf vielen Routen sickern die Flüchtlinge in den Kontinent ein. Die Lage in den betroffenen Staaten ist dramatisch.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Rom/Athen/Belgrad/Madrid - Jetzt flimmern sie wieder über den Bildschirm: Berichte von dramatischen Rettungsaktionen und Flüchtlingsschiffen, die führerlos und oft leckgeschlagen auf dem Mittelmeer treiben. Jeden Sommer, wenn das Meer ruhiger ist, wagen Tausende verzweifelter Menschen die gefährliche Überfahrt in Richtung Europa. Nach UN-Angaben sind weltweit mehr als 20 Millionen Menschen auf der Flucht und suchen in anderen Ländern Schutz vor Hunger, Krieg, Gewalt und Naturkatastrophen. Für fast fünf Millionen dieser entwurzelten Menschen heißt das Ziel Europa. Um dorthin zu gelangen, nehmen sie unendliche Strapazen auf sich, bezahlen horrende Summen für Schleuser, geben Heimat und Familie auf. Viele bezahlen die Flucht mit dem Leben.

 

Der Vorwurf an Europa lautet, dass sich der reiche Kontinent angesichts dieser Zahlen abschotte. Vor allem die EU-Grenzschutzagentur Frontex, die vor knapp zehn Jahren gegründet wurde, steht massiv in der Kritik. Mit der neuesten Technik versucht sie, die Flüchtlinge aufzuspüren und abzufangen, bevor sie Europa erreicht haben. Dazu beteiligen sich bei den multinationalen Einsätzen vor der afrikanischen Küste diverse EU-Staaten mit Schiffen, Hubschraubern und Flugzeugen. Die Organisation Amnesty International wirft Frontex vor, immer wieder gegen Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention zu verstoßen – etwa, wenn sie Bootsflüchtlingen in Not nicht hilft, obwohl das ausdrücklich vorgeschrieben ist, oder Boote zur Umkehr gezwungen werden, ohne dass das Recht auf Asyl im Einzelfall geprüft worden ist.

Doch die Schleuser haben auf die veränderte Lage reagiert. Seit Frontex den Weg über das Mittelmeer sehr eng kontrolliert, versuchen immer mehr Flüchtlinge auf dem Landweg über die Türkei nach Griechenland zu kommen. Doch weist Frontex darauf hin, dass das größte Einfallstor für Flüchtlinge nicht die gefährlichen Routen über das Mittelmeer oder die Landwege sind – sondern die europäischen Flughäfen. Die meisten jener Menschen, die sich illegal in Europa aufhielten, seien mit gültigen Papieren eingereist und danach im Zielland abgetaucht. Knut Krohn Ausgerechnet das Land, aus dem die meisten europäischen Asylbewerber stammen, sieht sich mit einer wachsenden Zahl illegaler Grenzgänger konfrontiert: Serbien gilt für Schlepper und Flüchtlinge aus Asien und dem Nahen Osten auf der sogenannten Westbalkan-Route als letzte und wichtigste Station auf dem Weg ins Schengen-Reich. Über Griechenland und Mazedonien gelangen die Flüchtlinge aus Asien in das Land, das für sie nur ein Transitstation ist. Im vergangenen Jahr wurden in Serbien rund 15 000 illegale Grenzgänger gestellt, die Dunkelziffer wird auf mindestens das Doppelte geschätzt. Aus dem nahen Kosovo kommen weitere Armutsemigranten hinzu.

Statt über die Griechenland-Fähren nach Italien wird verstärkt auf dem Landweg über Ungarn die illegale Einreise nach Schengen versucht. Der Routenwechsel schlägt sich auch in Serbiens Statistiken nieder. Die Zahl der Asylanträge ist im ersten Halbjahr auf die Rekordzahl von 1863 geklettert. Doch für die meisten ist der verarmte Balkanstaat nur eine Zwischenetappe auf ihrer Odyssee. Der Asylantrag gibt ihnen für ein halbes Jahr einen Status und Zeit, um Kraft für die Weiterreise zu sammeln oder auf neue Überweisungen ihrer Angehörigen zu warten.

In den Wäldern und in verlassenen Bauernhöfen um die überlasteten Asylzentren Banja Koviljaca und Bogovadja und in der Region um die nordserbische Stadt Subotica kurz vor der ungarischen Schengen-Grenze biwakieren Tausende Gestrandete. Auch der EU-Beitritt Kroatiens dürfte die populärste Schlepper-Route auf dem Westbalkan zunächst kaum ändern. Da der EU-Neuling noch kein Schengen-Mitglied ist und darum die Kontrollen an den Grenzen zu Slowenien und Ungarn bleiben, ist der Umweg über Kroatien für nach Serbien gelangte Flüchtlinge sinnlos. Thomas Roser Nach dem Besuch des Papstes auf Lampedusa herrscht im Aufnahmezentrum der Insel bereits wieder der Notstand: Am Wochenende befanden sich in dem für maximal 300 Personen konzipierten Lager 613 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen sind in den drei Tagen nach dem Franziskus-Besuch angekommen. Wegen der für eine Überfahrt günstigen Wetterbedingungen hatte sich der Zustrom intensiviert. Den Behörden ist es bisher nicht gelungen, alle Ankömmlinge sogleich per Luftbrücke in die Aufnahmezentren des Festlandes zu bringen.

So wenig sich nach dem Papstbesuch am Ansturm der Flüchtlinge geändert hat, so wenig wird sich auch an der italienischen Flüchtlingspolitik ändern. Exponenten der fremdenfeindlichen Lega Nord forderten Franziskus auf, die Flüchtlinge doch im Vatikan aufzunehmen. „Religiöse Predigten sind das eine, der staatliche Umgang mit diesem schwierigen und bedrohlichen Phänomen aber etwas ganz anderes“, kommentierte wiederum der Ex-Fraktionschef der Berlusconi- und Regierungspartei PDL, Fabrizio Cicchitto, das Anliegen des Papstes. Ein Rechtsstaat, der diese Bezeichnung verdiene, dürfe seine Wachsamkeit gegenüber den Immigranten nicht einschränken. „Schon gar nicht angesichts des totalen Mangels an internationaler Solidarität“, betonte Cicchitto. Er spielte damit auf die Haltung von Berlin und Brüssel an, welche sich bezüglich der in Italien, Spanien und Griechenland ankommenden Flüchtlinge aus Afrika seit Jahren hinter den Abkommen von Schengen und Dublin verstecken. Diese besagen, dass für die Asylsuchenden das Land zuständig sei, in welchem die Immigranten zum ersten Mal europäischen Boden betreten. Dominik Straub Ein solches Bauwerk gibt es kein zweites Mal in Europa: Drei Meter hoch, bewehrt mit messerscharfem Stacheldraht und Stahlträgern, gespickt mit Überwachungskameras zieht sich der Zaun über eine Strecke von zehn Kilometern an der griechisch-türkischen Grenze entlang. Die im vergangenen Jahr errichteten Sperranlagen wirken: Während früher an diesem Grenzabschnitt in manchen Nächten 400 illegale Einwanderer und mehr aus der Türkei nach Griechenland strömten, ist die Grenze hier jetzt nahezu dicht. Dafür bringen die Schleuser jetzt die Migranten wieder öfter über die Ägäis zu einer der griechischen Inseln. Vor der Küste Kretas rettete vergangene Woche die Mannschaft eines vorbeifahrenden Tankers ein mit 130 Flüchtlingen besetztes Schiff aus Seenot.

Zwar hat sich 2012 die Zahl der in Griechenland aufgegriffenen Flüchtlinge gegenüber dem Vorjahr stark reduziert. Das Land bleibt jedoch das wichtigste Einfallstor für Migranten, die vor allem über die Türkei kommen und in die EU wollen. Mehr als die Hälfte aller illegalen Einwanderer, die in der EU aufgegriffen werden, sind über Griechenland eingereist. Für das Land ist der Zustrom ein enormes Problem, denn nach den Regeln des Dublin-II-Abkommens dürfen die hier aufgegriffenen illegalen Migranten nicht in andere Schengen-Länder weiterreisen. Schlagen sie sich dennoch durch und werden entdeckt, schickt man sie nach Griechenland zurück.

Wie viele illegale Einwanderer mittlerweile in Griechenland leben, weiß keiner genau. Die Schätzungen gehen in Größenordnungen von mehr als einer Million. Das wären rund zehn Prozent der Bevölkerung. Mehrere Tausend Flüchtlinge sitzen in griechischen Lagern, meist unter menschenunwürdigen Bedingungen, und warten auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge oder ihre Abschiebung. Doch weil viele über ihre Herkunft keine oder falsche Angaben machen, ist die Rückführung meist schwierig. Auch die Türkei nimmt die Flüchtlinge, die über ihr Staatsgebiet nach Griechenland reisen, nur in den wenigsten Fällen zurück. So bevölkern Hunderttausende illegale und mittellose Einwanderer Athen und andere Städte.

Ganze Stadtviertel sind inzwischen zu Slums geworden, die von den Einheimischen gemieden werden. Griechische Geschäftsinhaber geben ihre Läden auf, die Immobilien in den einst gutbürgerlichen, nun aber heruntergekommen Vierteln haben deutlich an Wert verloren. Von der „Platia Amerikis“, dem Amerikaplatz, sprechen die Athener längst als der „Platia Afrikis“, dem Afrikaplatz. Das Flüchtlingsproblem erschüttert mittlerweile die Fundamente der griechischen Demokratie. Bei den Wahlen vor einem Jahr zog die Neonazi-Partei Goldene Morgenröte mit ihren ausländerfeindlichen Parolen erstmals ins Parlament ein. Ihren damaligen Stimmenanteil von knapp sieben Prozent hat sie den jüngsten Umfragen zufolge auf mehr als elf Prozent gesteigert. Damit wären die Neonazis Griechenlands drittstärkste politische Kraft. Gerd Höhler Die Grenzanlagen der spanischen Nordafrikaexklave Melilla signalisieren: hier kommt keiner rüber. Ein sieben Meter hoher Dreifachzaun bestückt mit Wachtürmen, Sensoren und Kameras soll ungebetene Besucher fernhalten. Doch der erste Eindruck täuscht. Vor wenigen Tagen näherten sich von marokkanischer Seite rund 100 Schwarzafrikaner dem Zaun und begannen ihn bei helllichtem Tag zu überklettern. Die Guardia Civil war sofort zur Stelle, doch etwa 40 Männern gelang es, die Grenze zu überwinden.

Solche Szenen wiederholen sich seit etwa einem Jahr alle paar Wochen. Melilla, eine Stadt mit 80 000 Einwohnern an der marokkanischen Mittelmeerküste, ist ein kleines Schlupfloch für afrikanische Migranten, die von einem besseren Leben in Europa träumen. In den Wäldern nahe der zwölf Kilometer langen Grenze warten rund 1000 von ihnen auf eine günstige Gelegenheit zum Sprung. Sie leben unter erbärmlichen Bedingungen. Sara Creta, eine italienische Filmemacherin, dokumentierte dort vor kurzem den Tod eines jungen Kameruners, der sich beim vergeblichen Versuch, den Zaun zu überwinden, verletzte und in Marokko keine ausreichende medizinische Versorgung fand.

Spanien will die Afrikaner nicht. „Der Kampf gegen die irreguläre Immigration ist ein unverzichtbares Ziel“, betonte Innenminister Jorge Fernández Díaz erst kürzlich. Der Kampf ist aus seiner Sicht ein erfolgreicher: Jahr für Jahr geht die Zahl der aufgegriffenen Ausländer ohne Visum zurück. Statt 39 000 im Jahr 2006 waren es im vergangenen Jahr noch 3800. An den Küsten der Kanarischen Inseln kommen fast überhaupt keine Migrantenboote mehr an. Wer sich heute noch nach Spanien durchzuschlagen versucht, tut es stattdessen vornehmlich über Melilla. Der Zaun ist überwindbar. Martin Dahms