Jeden Konflikt im Nahen Osten spüren sie im schwedischen Södertälje sofort, dann können sie neue Klassen einrichten und Unterkünfte bauen. Jeder zehnte syrische Flüchtling gibt eine Adresse von Verwandten in der Kleinstadt bei Stockholm an.

Die Fassade der großen Halle leuchtet weiß in der Dämmerung. Am Eingang gibt es keine Klingel, Afram Yakoub öffnet auf Anruf. Manches ist einfach noch nicht fertig, seit das Assyrische Zentrum in Södertälje, eine halbe Stunde südlich von Stockholm, abgebrannt ist und im Oktober wiederöffnet wurde. Die Polizei ging von Brandstiftung aus, fand aber keine Täter. Yakoub ist ein schmaler Mann von Anfang 30 und spricht das Feuer selbst nicht an. Er führt stolz durch die neuen Räume: unten den riesigen Saal für Hochzeiten und andere Feiern, oben sein großzügiges Büro. Yakoub ist Vorsitzender der Assyrischen Föderation Schwedens. Assyrer, eine christliche Minderheit aus dem Nahen Osten, gibt es schon lange in Södertälje. Mehr als 25 000 Menschen leben heute hier, das sind fast ein Drittel aller Einwohner der Stadt. Es werden mehr.

 

„Unglücklicherweise“, sagt Yakoub, „unglücklicherweise rechne ich mit viel mehr.“ Sie kommen aus Syrien, fliehen vor dem Krieg nach Schweden, das ihnen seit September unbefristetes Aufenthaltsrecht garantiert. 5500 Flüchtlinge haben seither Asyl beantragt, 22 000 weitere erwartet das Land dieses Jahr. Wer es nach Schweden schafft, muss den Behörden nur eine Adresse nennen, dann darf er dorthin ziehen. Jeder Zehnte gibt eine Adresse von Verwandten in Södertälje an. „Wir haben jetzt schon Probleme mit der Integration, und die Regierung heißt immer mehr Menschen willkommen“, sagt Yakoub, der 1989 als Kind mit den politisch verfolgten Eltern aus Syrien geflohen ist. Am liebsten würde er eine Kampagne starten und die Flüchtlinge dazu bringen, sich woanders anzusiedeln, irgendwo in Schweden, nur nicht hier.

Die alten Einwanderer kritisieren die neuen Flüchtlinge

Die ersten Assyrer kamen in den sechziger Jahren. Sie haben sich den schmucklosen Ort wegen der Jobs ausgesucht. Der Fahrzeugbauer Scania und der Pharmakonzern Astra Zeneca machen ihn bis heute zum größten Arbeitsmarkt der Region nach Stockholm. Von 2003 an kamen die Flüchtlinge aus dem Irak – insgesamt 6000 Menschen. Der damalige Bürgermeister warb damit, dass seine Stadt mehr irakische Flüchtlinge aufgenommen habe als die USA. Viele von ihnen haben bis heute keinen Job. Die Arbeitslosenquote in Södertälje liegt bei 14,3 Prozent, weit über dem schwedischen Durchschnitt. Die Kriminalität ist hoch, Wohnraum ist knapp. In manchen Vierteln teilten sich bis zu zehn Menschen einen Raum, heißt es im Rathaus. Trotzdem sollen dieses Jahr 2200 syrische Flüchtlinge dazukommen, 1500 waren es bereits 2013. „Das ist Sauerstoff für Anti-migrations-Parteien“, sagt Yakoub.

Zwei rechtsextreme Nationaldemokraten sitzen bereits im Stadtrat und fünf Mitglieder der einwanderungsfeindlichen Schwedendemokraten. Es ist bekannt, dass Letztere inzwischen auch von Migranten gewählt werden. Früher, so geht die Geschichte vieler Einwanderer, die seit Jahrzehnten in Schweden leben, war alles anders. Da kamen sie zum Arbeiten, haben sich etwas aufgebaut. Yakoub ist stolz auf das hiesige Fußballstadion mit 6400 Plätzen und einem Fanshop, der T-Shirts in alle Welt verschickt. Das Team Assyriska Föreningen, gegründet 1974, spielt in der zweiten Liga. Die Assyrer haben sich hier etabliert. Zu ihrer Gemeinde gehören auch sechs Kirchen und zwei Fernsehsender, die online berichten und Södertälje zu einem Sehnsuchtsort vieler Assyrer im Ausland machen.

Für Bürgermeisterin Boel Godner ist das Teil eines Problems, das sich längst verselbstständigt hat. „Überall auf der Welt wissen sie von Södertälje“, sagt sie. Die zierliche Frau entschuldigt sich kurzatmig dafür, dass der Besprechungsraum im Rathaus so eng ist. Ihr Schreibtisch steht in einem Großraumbüro. Für Interviews weicht sie in dieses Kämmerchen aus. In letzter Zeit ist sie oft hier drin.

Södertälje sei ein besonderer Ort, sagt die Sozialdemokratin. „Wir sind daran gewöhnt, Menschen zu helfen.“ Das merke man an den langen Schlangen im Supermarkt, wo immer ein Neuankömmling Hilfe mit den schwedischen Kronen brauche. „Jeden Konflikt im Nahen Osten spüren wir hier sofort“, sagt Godner. Sie befürworte, dass Schweden viele Flüchtlinge aufnimmt. Doch sie wisse nicht, wohin mit all den Menschen. Die Regierung müsse dafür sorgen, dass sie besser auf die Kommunen verteilt würden. Sie will mehr Geld für Sozialhilfe und Schulen. Gerade Kinder litten unter der Enge, der Armut, der fehlenden Integration. „So sollte niemand aufwachsen“, sagt Godner. „Mehr werden kommen, und mehr werden unglücklich werden.“

Die Regierung hat angekündigt, Druck auf Städte auszuüben, die kaum oder keine Flüchtlinge beherbergen. Denen, die viele Menschen aufnehmen, hat sie finanzielle Hilfe zugesichert. Allerdings, so heißt es aus dem Ministerium für Migration, werde man Asylbewerber weiterhin wählen lassen, wo sie leben wollen. Ihnen ginge es bei Freunden und Verwandten am besten.

Man trifft alte Bekannte aus Syrien zufällig im Laden

Für Gabriella und Shams scheint das zu stimmen. Die beiden Mädchen sitzen im Schwedischunterricht der Ronna-Schule, benannt nach dem Stadtteil, in dem die Mietskasernen Södertäljes stehen. Neun von zehn Einwohnern haben hier einen Migrationshintergrund. 98 Prozent der Schüler sprechen eine andere Muttersprache als Schwedisch, zwei Drittel sprechen Arabisch. Die beiden syrischen Mädchen haben schnell Freunde gefunden.

Die 15-jährige Gabriella ist im Oktober mit ihren Eltern und Geschwistern aus Aleppo geflohen. In Aleppo durfte sie nicht mehr auf die Straße, aus Angst vor Kidnappern. In Södertälje geht Gabriella nachmittags ins Einkaufszentrum. Oft trifft sie dort Bekannte aus Syrien, von denen sie gar nicht wusste, dass sie auch hier leben. „Dann sind wir glücklich, dann ist es wie Heimat“, sagt sie. Ihre Familie teilt sich zu sechst ein Zimmer bei der Großtante. Shams’ Familie, die 2012 geflohen ist, lebt mit sieben Leuten in zwei Zimmern. Über Facebook halten die Mädchen Kontakt zu Freunden in Syrien. „Sie erzählen, dass sie auch herkommen wollen“, sagt Gabriella.

Die Schulleiterin Lina Axelsson Kihlblom hat 2013 allein 100 Kinder aus Syrien aufgenommen, ein Viertel ihrer 790 Schüler ist neu in Schweden. „Ich liebe die Kinder in dieser Schule, verdammt noch mal“, sagt die riesige Blondine, als wolle sie damit  alle Schwierigkeiten vertreiben. Ihr Arbeitsplatz gelte vielen als „schmuddelige Schule in einer schmuddeligen Nachbarschaft“. Als sie vor zweieinhalb Jahren hier anfing, hätten viele Schüler dasselbe gedacht. „Jetzt müssen wir ihnen zeigen, dass wir an sie glauben“, sagt sie. Die Rektorin hat durchgesetzt, dass von der siebten Klasse an immer zwei Lehrer gemeinsam unterrichten, einer muss Arabisch sprechen. Inzwischen ist der Anteil der Schüler, die es nach der neunten Klasse auf die weiterführende Schule schaffen, von 52 auf 76 Prozent gestiegen. Ihr Ziel sind 88 Prozent, dann hätte sie den schwedischen Durchschnitt geknackt. „Es gibt die Auffassung, dass Immigranten schlecht sind, nicht dazugehören. Ich möchte dieses Bild ändern“, sagt Kihlblom. Sie hat sich Södertälje ausgesucht. Es ist der perfekte Ort für sie.