Wir haben geflüchtete Menschen, die in der Notunterkunft im Reitstadion in Stuttgart untergebracht waren, noch einmal besucht. Wie geht es ihnen heute? Wo sind sie? Hier lesen Sie die Geschichte von der ehemaligen afghanischen Soldatin Sakina Esmaili und ihren drei Kindern.

Kultur: Kathrin Waldow (kaw)

Stuttgart - Sakina Esmaili sieht traurig aus. Ihr Kopftuch sitzt locker, sie trägt mehrere Pullis, darüber eine türkisfarbene Strickjacke. Sakina ist warm angezogen in ihrem neuen Zuhause. Es ist März und sehr kalt. Wir treffen die ehemalige afghanische Offizierin im Waldheim in Stuttgart-Weilimdorf. Hier lebt die 29-Jährige seit ein paar Wochen mit ihren drei Kindern Mohadesa (14), Mahdia (13) und Morteza (7). Sakinas dunkle Augen wandern zwischen ihren Kindern und den anderen Flüchtlingen, die neugierig unserem Gespräch lauschen, hin und her. Wenn sie redet, wird ihr Blick lebendig. „Ich freue mich sehr, dich wieder zu sehen“, sagt sie.

 

Wir haben die junge Frau Anfang Dezember 2015 bei unserer 24-Stunden-Reportage in der Notunterkunft

Sakina Esmaili im Dezember 2015 in der Notunterkunft für Flüchtlinge im Reitstadion in Stuttgart. Foto: Kneißler

für Flüchtlinge im Stuttgarter Reitstadion kennengelernt. Seitdem ist viel passiert: Vom Reitstadion in S-Bad Cannstatt wurden die Esmailis in die Landeserstaufnahmestelle nach Wertheim gebracht. „Da waren wir 47 Tage mit etwa 700 anderen Flüchtlingen“, erzählt Sakina. Sie zählt die Tage genau. „Ich habe mich dort sehr unsicher gefühlt. Es soll Schlägereien gegeben haben, ich konnte vor Sorge kaum schlafen.“ Einen Tag vor dem Umzug nach Weilimdorf habe sie Bescheid bekommen, dass sie und ihre Kinder woanders hingebracht würden. „Wir dachten, es ginge zurück ins Reitstadion nach Stuttgart, weil man uns nur gesagt hat, es ginge nach Stuttgart zurück. Da haben wir uns gefreut. Wir haben uns dort wohl gefühlt und wurden gut versorgt.“

Acht Quadratmeter Privatsphäre

Sie wurden dann aber nach Stuttgart-Weilimdorf gebracht. Das Reitstadion wurde nur übergangsweise als Notunterkunft genutzt. Im Waldheim teilen sich die ausgebildete Krankenschwester und ihre Kinder mit zehn anderen Familien das Erdgeschoss, einen Aufenthaltsraum und zwei Küchen. Im Sommer ist das Gebäude samt großer Außenanlage, einem Spielplatz und einem Fußballplatz ein Ferienlager für Kinder.

Jetzt ist es das Zuhause für 34 Kinder und 19 Erwachsene, Flüchtlinge aus verschiedenen Krisengebieten.

Jede Familie hat einen mit Bauzäunen abgetrennten Bereich. Die Privatsphäre der Esmailis beschränkt sich auf geschätzte acht Quadratmeter, auf denen ein Bett und ein dreistöckiges Bett für die Kinder sowie ein Tisch und vier Stühle stehen. Kein Ort um sich wohlzufühlen, anzukommen. Bei unserem Besuch zählt Sakina 40 Tage in dieser Unterkunft. Probleme unter den Flüchtlingen gibt es wie in den meisten Unterkünften auch hier.

„Es ist zu kalt und zu laut“, sagt sie. „Das Problem ist, dass einige Familien ihre Kinder nicht ins Bett schicken. Die Kinder sind also bis spät nachts auf und springen in den Gängen umher. Die Erwachsenen sind oft bis 2 Uhr nachts in der Küche. Wir wollen keinen Streit, deshalb sagen wir nichts, aber schlafen können wir so auch nicht“, sagt die dreifache Mutter. Die älteste Tochter, Mohadesa, nickt zustimmend. Auch die 13-jährige Mahdia und der schüchterne Morteza lauschen jedem Wort ihrer Mutter.

Sakina Esmaili (v. rechts) in Uniform bei einem Einsatz in Afghanistan. Sie stand dort einer weiblichen Brigade vor. Foto: Esmaili

Zu viert sind sie aus Afghanistan vor den Taliban geflohen. Sakina habe dort für die Armee gearbeitet und sei verheiratet gewesen. Doch ihr Mann habe sie und die drei Kinder für eine andere Frau verlassen, erzählt sie.

Warten auf das Interview

Nach vier Monaten in Deutschland wisse sie nicht, wann und wohin die Reise weitergehe - ob sie überhaupt in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt werden oder nicht. „Ich weiß nicht, was mit uns passieren wird. Das Asylverfahren läuft ja noch gar nicht, wir hatten noch kein Interview zu unserem Status, ich weiß auch nicht, an wen ich mich wenden kann. Ich frage mich, was mit uns passiert, wenn wir nicht in Deutschland bleiben dürfen“, beschreibt sie ihre Situation und schiebt eine Rechtfertigung hinterher. „Wir sind nicht wegen des Geldes hier, wir sind hier, weil wir in Afghanistan kein sicheres Leben hatten. Ich wusste nicht, ob ich wieder heil nach Hause kommen würde, wenn ich die Haustür hinter mir schloss. Trotzdem frage ich mich manchmal, ob es ein Fehler war, hierher zu kommen. Wir warten ja nur. Ich wünsche mir, dass meine drei Kinder in die Schule gehen können. Bislang darf nur Morteza zur Schule gehen. Ich würde gerne die deutsche Kultur kennenlernen und mehr unternehmen. Aber wenigstens sind wir am Leben.“

Alleine mit der Krankheit und der Langeweile

Das Waldheim liegt etwas abgeschieden, neben ein paar Angeboten von Ehrenamtlichen wie Sport und Deutsch lernen kann Sakina hier nicht viel unternehmen. Kleine Kinder können draußen toben, für Jugendliche gibt es jedoch kaum Angebote. Die Mädchen Mohadesa und Mahdia langweilen sich Tag für Tag.

Bis Ende Juni soll das Waldheim noch als Unterkunft für Flüchtlinge dienen. Im Sommer werden hier wieder andere Kinder im Ferienlager spielen.

Die Flüchtlinge müssen dann an einem anderen Ort untergebracht werden. Wo, wisse man noch nicht, sagt Heimleiterin Vicky Kupa.

Ohne zu wissen was die nächsten Tage, Wochen oder Monate bringen werden, fühlt sich Sakina in Weilimdorf alleine gelassen. „Wir sind auf uns alleine gestellt und meinen Kindern ist sehr langweilig, das macht sie und mich traurig. Es gibt auch keinen Deutschkurs, in den ich sie schicken könnte“, sagt sie.

Was sie und ihre Kinder aber noch trauriger macht, ist eine Nachricht, die sie vor Kurzem bei einem Krankenhausbesuch erhalten hat. „Ich musste gründlich ärztlich untersucht werden. Dabei haben die Ärzte festgestellt, dass ich einen Knoten in der Leber habe. Der ist zwar nicht bösartig, man sollte ihn bald entfernen. Ich will meine Kinder aber nicht für mehrere Tage hier alleine in der Unterkunft lassen“, erzählt sie mit Tränen in den Augen. Der kleine Morteza klammert sich an ihren Arm. Der Knoten wachse immer weiter, mittlerweile habe er einen Durchmesser von zwölf Zentimetern, so Sakina. „Ich habe starke Schmerzen“, sagt sie. Doch das Gefühl, nicht zu wissen, wie es mit ihr und ihren Kinder weitergehe, sei viel schlimmer als die Krankheit.

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Die 24-Stunden-Reportage aus der Notunterkunft für Flüchtlinge im Stuttgarter Reitstadion