Schiere Angst ist eine schlechte Ratgeberin in Flüchtlingsfragen. Blinde Hilfsbereitschaft ebenso. Doch den Mittelweg zu finden ist schwierig, meint StZ-Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart -

 

Imagine there’s no countries

It isn’t hard to do

Nothing to kill or die for

And no religion too.

John Lennon, 1940–1980

Am Freitag wäre John Lennon 75 Jahre alt geworden. Ich war auf dem Weg zur Arbeit, als mich diese Nachricht erreichte. Der Kerl im Radio sagte ein paar Takte, dann spielte er „Imagine“. Die erste Strophe summte ich mit. Bei der zweiten stockte ich. Was sang der Bursche da? „Stell dir vor, es gäbe keine Staaten, nichts, für das es sich lohnen würde zu töten oder zu sterben, und auch keine Religion mehr.“ Wow, damit entfiele wohl jeder Grund, vor irgendetwas zu fliehen, dachte ich und sah, wie ein Auto vor mir bremste. Willkommen zurück in der Realität!

Es kann einem schon schwindelig werden in Anbetracht der minütlich wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die auf der Welt unterwegs sind – und den vielen unter ihnen, die in ihrer Not und mit ihrer Hoffnung zu uns kommen. Wie sollen wir das meistern? Wo sollen wir die Leute unterbringen? Und was macht das mit uns?

Der Ärger vieler Bürger über die Flüchtlinge wird greifbar

Es scheint, als würden Ärger und Angst vieler Bürger mit jedem weiteren Flüchtling, der hier eintrifft, greifbarer. Und das ist ja auch verständlich. Denn es handelt sich bei den Ankommenden nicht um Projektionen, die sich durchs Umschalten auf ein anderes Programm wegzappen ließen. Diese Flüchtlinge sind Menschen aus Fleisch und Blut – mit Bedürfnissen, Wünschen, Lastern. Sie beanspruchen Platz und Aufmerksamkeit. Sie stören uns in unserem tiefen Bedürfnis nach Ruhe und Behaglichkeit. Die Welt ist hektisch genug, da dürfen wir es uns doch wenigstens daheim ein wenig gemütlich machen, oder?

Oh ja, das dürfen wir. Das müssen wir sogar, weil wir sonst verrückt werden. Wer im Angesicht der vielen Hilfesuchenden das Tor zu seinem Herzen restlos öffnet, ohne einen individuellen Rückzugsraum zu schaffen, wird aufgefressen von den Eindrücken, die er nicht mehr loswird. Dann begegnen einem die armen Menschen noch im Schlaf, man füllt Antrag um Antrag für sie aus und wacht schweißgebadet auf, weil man alles nur geträumt anstatt, wie versprochen, getan hat. Ein Albtraum! Wer aber aus Furcht vor diesem Szenario sein Herz verschließt und aus Selbstschutz eine Mauer errichten will, um die vermeintliche Flüchtlingswelle daran abprallen zu lassen, verliert seine Menschlichkeit. Er mutiert zu einer hohlen Figur, die das Mitgefühl ausblenden muss, um weiterleben zu können. Das eine ist so schlimm wie das andere. Beides endet in der Katastrophe.

Wer hilft, plädiert nicht für ungebremsten Zuzug

Den Mittelweg zu finden ist schwierig. Wer ihn aber sucht, hat schon den ersten wichtigen Schritt getan. Er beschäftigt sich mit dem Thema, liest darüber, denkt nach und redet mit anderen. Meist reifen auf diese Art die besten Erkenntnisse. Zum Beispiel diese: Wer den Flüchtlingen hilft, plädiert damit nicht automatisch für einen ungebremsten Zuzug. Und wer Angst vor ihnen hat, ist noch lange kein Nazi.