Wir haben geflüchtete Menschen, die in der Notunterkunft im Reitstadion in Stuttgart untergebracht waren, noch einmal besucht. Wie geht es ihnen heute? Wo sind sie? Hier lesen Sie die Geschichte von Kinderarzt Dahoud Lali und seiner Familie – sie lernen im Schwarzwald die deutsche Sprache und Gastfreundschaft kennen.

Kultur: Kathrin Waldow (kaw)

Stuttgart/Aichhalden - Rötenberg ist ein Ortsteil von Aichhalden, einer kleinen Gemeinde im Landkreis Rottweil. Einer sehr kleinen Gemeinde im tiefsten Schwarzwald. Hier leben rund 1.500 Menschen. Seit dem 13. Januar 2016 auch die Lalis aus Afghanistan. Die fünfköpfige Familie macht hier Station, nachdem sie vor einem halben Jahr vor den Taliban geflohen ist.

 

„Uns geht es jetzt wirklich gut. Wir sind sehr glücklich,“ mit diesen Worten empfängt uns Papa Dahoud Lali in einem kleinen Haus mitten im Dorf, das er sich mit seiner Frau Halimayh, den drei Kindern und einer Flüchtlingsfamilie aus Nordkorea teilt.

Dr. Dahoud Lali (li.) mit einer Kollegin in der medizinischen Notversorgungsstelle im Reitstadion in Stuttgart Mitte Dezember 2015. Foto: Waldow

Wir haben Dahoud Lali im Dezember 2015 bei unserer 24-Stunden Reportage in der Notunterkunft für Flüchtlinge im Stuttgarter Reitstadion kennengelernt. Als Kinderarzt half er damals ehrenamtlich auf der medizinischen Notfallstation kranke Flüchtlinge zu versorgen, übersetzte und stellte Diagnosen.

Als Arzt in Deutschland arbeiten zu können, ist sein größter Wunsch. „Dafür muss ich aber viel besser Deutsch lernen“, sagt er. „Meine Frau und ich gehen jetzt dreimal die Woche in einen Deutschkurs“, erzählt er stolz. Der werde von Ehrenamtlichen gegeben, denen die Lalis sehr dankbar sind. Überhaupt: „Wir sind den Leuten in Rötenberg sehr dankbar,“ wiederholt er immer wieder. „Die Menschen hier sind sehr nett. Als wir ankamen, haben sie uns willkommen geheißen, viele haben bei uns geklingelt und uns Kuchen gebracht. Wenn wir Deutsch lernen, passen Ehrenamtliche auf unsere Kinder auf. Die freiwilligen Helfer sind für uns da, manchmal kommt sogar ein Mann vorbei und repariert etwas am Haus – wie ein Hausmeister. Wenn wir krank sind, bringen sie uns mit dem Auto nach Rottweil zum Arzt“, erzählt Lali.

Wir sitzen in einem der beiden Zimmer, die sie sich nun zu fünft teilen. Seine Frau Halimayh hat einen Kuchen für den Besuch von der Zeitung gebacken und schneidet ihn auf. Die dreijährige Tochter Morsad nimmt sich ein Stück. Sie springt munter auf dem Bett der Eltern hin und her, während Papa Dahoud mit seiner leisen Stimme erzählt: „Nach dem Reitstadion in Stuttgart wurden wir in eine Flüchtlingsunterkunft nach Ellwangen gebracht. Dort war es sehr schlimm. Alles war sehr schmutzig. Es waren einfach zu viele Menschen an einem Ort. Dann wurden wir eines Tages nach Karlsruhe gebracht. Dort haben wir fast drei Wochen gewohnt. Und dann haben sie uns in dieses Haus gebracht.“ Seine Frau macht ein Foto von ihm, wie er der Presse alles erzählt.

Drohbriefe, Angst und Schrecken

Die Lalis haben schon viel durchgemacht. Erst in Afghanistan, dann auf der Flucht. Sie hätten in ständiger Angst vor den Taliban gelebt, weil sie der ethnischen Gruppe der Hazara angehörten – und weil Dahoud für die Amerikaner als Übersetzer gearbeitet hatte. Gleich zwei Gründe die Taliban gegen sich aufzubringen, so Dahoud. „Wir bekamen Drohbriefe und mussten mehrfach umziehen. Ich hatte ständig Angst, meinen Kinder, meiner Frau oder mir würde etwas passieren. Die Taliban töten Menschen der Hazara, sie schneiden ihnen einfach die Kehle durch“, erzählt er und blickt aus dem Fenster auf den Schwarzwald.

Halimayh streicht ihm über den Rücken, sie sitzt die ganze Zeit neben ihm auf dem Bett. „Ich habe auch jetzt noch sehr große Angst um meine Mutter, meinen Onkel und Cousin, die immer noch dort leben“, sagt er mit brüchiger Stimme. „In dem Krankenhaus, in dem ich gearbeitete habe, haben die Taliban eine meiner Kolleginnen misshandelt und umgebracht, andere Kollegen wurden tagelang eingesperrt. Irgendwann war klar, dass wir aus Afghanistan fliehen müssen“, erzählt er. Es sprudelt nur so aus dem kleinen, intelligenten Mann mit dem verlorenen Blick heraus. Tochter Marjam (10) und Sohn Massoud (8) spielen solange im Nebenzimmer. Die Türe ist zu. Vielleicht sollen sie das alles nicht hören, um nicht unnötig an die schrecklichen Erlebnisse erinnert zu werden.

„Menschen wurden an der Grenze erschossen“

Dass sie nach Deutschland kommen würden, hätten sie selbst, damals am 31. Oktober 2015, als sie sich mit dem Flugzeug auf den Weg in den Iran machten, nicht gedacht. „Dort konnten wir aber auch nicht bleiben.“ Mit einem Pferd, auf dem die Kinder abwechselnd gesessen hätten, hätten sie sich auf den Weg zur türkischen Grenze gemacht. „Was wir dort erlebt haben, gehört zu meinen schlimmsten Eindrücken. Ich habe gesehen, wie iranische Soldaten an der türkisch-iranischen Grenze Menschen erschossen haben. Wir hatten solche Angst.“

Im Schutz der Nacht hätten sie nach einigen Stunden die Grenze passiert. Dann ging es nach Ankara, von dort nach Istanbul. Schritt für Schritt, Schleuser für Schleuser immer weiter. Dann habe er für die ganze Familie Plätze in einem Schlauchboot nach Griechenland gebucht. „Ich hab extra ein kleineres ausgewählt, in das nicht so viele Menschen passen. Sie haben mir versprochen, dass wir etwa 30 Personen darin sein würden. Mit der Pistole an der Schläfe mussten wir nacheinander einsteigen. Als es losging waren wir über 50. Die ganze Familie über das Boot verteilt. Das war der schlimmste Moment der Reise. Ich dachte das Boot geht unter, wir schaffen es nicht, wir ertrinken alle.“

Hoffen auf eine Zukunft in Stuttgart

Das Schlauchboot kam an, die Lalis haben es nach Europa geschafft. An der griechischen Küste wurden sie von einem Flüchtlingshilfswerk versorgt, dann wurden sie nach Athen gebracht. Von dort ging es über die Balkanroute – über Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich - nach Deutschland. Ins Stuttgarter Reitstadion.

Auch wenn es ihnen in Rötenberg gut gehe, fallen Dahoud und Halimayh Lali bei aller Dankbarkeit dann doch noch ein paar Sachen ein, die sie sich für die Zukunft wünschen. „Wir wollen auf eigenen Beinen stehen, mehr Deutsch lernen und ich würde am liebsten als Arzt arbeiten und in Stuttgart leben. Ich mag Stuttgart.“

Der Schwarzwald, die Abgeschiedenheit ist wahrscheinlich auch nur eine weitere Station im Leben der Lalis. „Es wäre besser wieder in einer Stadt zu leben, allein schon für die Kinder. Sie gehen hier in die Schule, das ist toll. Wir gehen viel spazieren. Aber mehr als spazieren gehen, kochen, einkaufen und Deutsch lernen können wir hier nicht machen“, gibt er zu. Und wenn er irgendwann arbeiten dürfe, dann wäre es in einer größeren Stadt sicherlich auch leichter etwas zu finden, sagt er. Bislang läuft allerdings noch nicht einmal der Asylantrag der Lalis. Dafür haben sie noch keinen Termin bekommen.

Sie werden noch eine ganze Weile im Schwarzwald warten müssen, bis sie wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Das wichtigste sei jedoch, dass sie sich endlich wieder sicher fühlen. „Wir fühlen uns wieder wie Menschen. Das ist ein gutes Gefühl“, sagt Dahoud und sieht aus dem Fenster.

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Die 24-Stunden-Reportage aus der Notunterkunft für Flüchtlinge im Stuttgarter Reitstadion