Die Europäer wollen Rückführungsabkommen mit Staaten wie Ägypten, Niger, Mali, Senegal und auch Pakistan und Afghanistan schließen. Allein in Kairo zeigt sich, dass das sehr schwierig wird.

Kairo - Zum ersten Mal tauchte die magische Zahl irgendwann im Frühjahr auf. Ägypten beherberge fünf Millionen Flüchtlinge, sagte Staatschef Abdel Fattah al-Sissi, der starke Mann am Nil. Kürzlich in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung in New York zog er diese Zahl erneut aus der Tasche, ohne zu sagen, woher sie kommt. Die UN-Flüchtlingshilfsorganisation in Kairo dagegen weiß nichts von solchen Dimensionen des Elends. Sie registrierte im letzten Jahr 250 000 Flüchtlinge, die Hälfte Syrer, also etwa fünf Prozent der Sissi-Angaben. Der Ex-Feldmarschall dagegen hat vermutlich sämtliche im Land lebenden Nicht-Ägypter kurzerhand zu Flüchtlingen gemacht. Denn seine Fünf-Millionen-Zahl soll nicht stimmen, sie soll in Brüssel Angst erzeugen.

 

Der Staatschef will die EU schocken

Dazu garniert Sissi seine Reden gerne auch mit einem Seitenblick auf die ägyptische Demografie. Jedes Jahr kämen 2,6 Millionen Ägypter hinzu, erklärte er kürzlich in einem US-Interview. Die Zahl der jährlichen Schulabgänger bezifferte er auf 600 000. Den meisten dieser junge Frauen und Männer aber haben Ägyptens Machthaber kaum mehr zu bieten als hoffnungslos überfüllte Universitäten, Arbeitslosigkeit oder eine Dauermisere als Tagelöhner. Und wer dann immer noch nicht begreift, für den setzt der Staatschef bereitwillig noch eine Prise Apokalypse obendrauf. Wenn Ägypten zusammenbreche, warnte er, dann würden Millionen IS-Mitglieder die Welt stürmen. Will heißen: Ägypten ist die wichtigste Anti-Terrorbastion für Europa und platzt aus allen Nähten, quillt über mit Flüchtlingen und Verzweifelten, die millionenfach in Richtung Italien drängen.

Mit den Flüchtlingen lässt sich Geld machen

Seit dem Abkommen mit Ankara wissen die Herrscher in Kairo, dass sich aus Europas Migranten- und Terrorangst eine Menge Geld herausschlagen lässt. Ihr eigenes Land dagegen haben sie in eine tiefe Finanz- und Wirtschaftskrise hineingeführt. Derweil betreiben die Schlepperringe an den Küsten immer ungenierter ihr Geschäft. Seit Jahresbeginn stieg die Zahl der von Ägypten nach Italien kommenden Bootsmigranten auf über 12 000 an, auffallend viele sind unbegleitete ägyptische Jugendliche. Sie werden von ihren Eltern losgeschickt, um der Not daheim zu entkommen, wie auch die meisten der vermutlich 550 Menschen, die letzten Mittwoch mit einem völlig überladenen Fischkutter kenterten. „Ich wollte nach Europa, um anständig leben zu können“, sagte ein 17-jähriger Überlebender. 163 Menschen konnten gerettet und 166 Leichen geborgen werden, die vier Bootsführer wurden verhaftet. Eingepfercht im Bauch des gesunkenen Schiffes sind wahrscheinlich weitere hundert Menschen ertrunken. Fünf Tage lag der schrottreifes Kahn vor der Küste nahe der Ortschaft Borg Rashid vor Anker, während die Schlepper ihn mit immer mehr jungen Männern anfüllten, aber auch ganzen Familien mit Frauen, Kindern und Babys.

Viele Menschen ertrinken

Die Fluchtwilligen werden in kleinen Gruppen mit Schnellbooten an verschiedenen Küstenpunkten aufgesammelt und zum wartenden Mutterschiff gefahren. Nach Augenzeugen brachten die letzten 150 herangeschafften Menschen dann die bereits völlig überladene „Mawkeb al-Rasul“ zum Umkippen. Nach dem Unglück dauerte es sechs Stunden, bis das erste Rettungsboot losfuhr, um nach Überlebenden zu suchen. Fischer, die bereits in den Morgenstunden auslaufen wollten, wurden von der Küstenwache bis zum späten Vormittag daran gehindert, wie aufgebrachte Angehörige lokalen Medien berichteten.

Umgerechnet 3500 Euro verlangten die Schlepper pro Person, Familien zahlten 5500 Euro. Die meisten Boote starten in Küstenorten wie Borg Megheisil oder Borg Rashid. Die heimischen Hoheitsgewässer sind leergefischt, und so ist der Menschenschmuggel für die Seeleute eine willkommene Alternative. Die lokalen Werften erleben einen gewissen Boom. Die schlecht bezahlten Polizisten vor Ort schauen weg oder stecken mit den Banden unter einer Decke. Bisweilen wird ein Zubringerkahn mit ein paar Dutzend Fluchtwilligen aufgebracht. Oder die Polizei verhaftet eine Handvoll Migranten, die auf ihr Schlauchboot warten. Die Drahtzieher jedoch bleiben unbehelligt.

Ein neues Abkommen ist in Sicht

Italienische Ermittler wüssten oft bis ins Detail, wann die illegalen Schiffspassagen in See stechen, zitierte die Tageszeitung „Fatto Quotidiano“ aus Ermittlungsakten. Doch Amtshilfe von ägyptischer Seite gebe es nicht. Stattdessen wartet die Regierung in Kairo auf die Emissäre aus Brüssel, die sich nun endlich angesagt haben. In der Generaldebatte zum Haushalt stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel nun auch Ägypten, Tunesien und – wenn möglich – Libyen ein Flüchtlingsabkommen wie mit der Türkei in Aussicht. „Diesen Weg müssen wir einschlagen“, sekundierte jetzt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz in der „Süddeutschen Zeitung“. Der Schutz der Flüchtlinge und die Bekämpfung des Schlepperwesens müssten dabei im Vordergrund stehen. Dabei ist Ägypten mit 5,5 Milliarden Dollar schon jetzt in der gesamten Welt die Nation mit den meisten bilateralen und multilateralen Finanzhilfen pro Jahr.

Bei den Menschen, geschweige denn den Flüchtlingen, kommt von diesem vielen Geld wenig an. Die Hälfte der 92 Millionen Ägypter ist arm oder bettelarm. Stattdessen stieg das Sissi-Regime 2015 zum viertgrößten Waffenkäufer des Globus auf. Gleichzeitig macht es momentan allen wichtigen Menschenrechtsorganisationen den Prozess, weil sie gemeinsame Projekte mit ausländischen Stiftungen haben und ihre Budgets sich daher teilweise aus dem Ausland finanzieren. Und so warnte die Grünen-Politikerin Franziska Brantner die EU davor, Milliarden an die Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sissi zu überweisen. Das Militär sei in Ägypten tonangebend und entscheide, wohin das Geld fließe. „Es kann nicht im europäischen Interesse sein, dass unsere Hilfsgelder im ägyptischen Militärapparat versickern“, erklärte Brantner.