Mehr als 200 Flüchtlinge ziehen in einem Demonstrationszug durch Ellwangen. Nicht sie, sondern die Polizei sei gewalttätig gewesen, sagen sie. Was denken die Ellwanger darüber?

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Ellwangen - 34 Meter hoch reckt sich der Maibaum in den sonnigen Himmel über dem Ellwanger Marktplatz. Daneben sitzt Mfouapon Alassa – ein stattlicher junger Mann mit gestreiftem Hemd – an einem alten Resopaltisch, den sie eigens für diese Mahnwache hergekarrt haben. Später wird der gleiche Tisch vor der Lea aufgestellt, der Landeserstaufnahmeeinrichtung. Dort, direkt vor dem Haupttor der ehemaligen Reinhard-Kaserne, geben die afrikanischen Flüchtlinge eine Pressekonferenz. „Das, was in der vergangenen Woche berichtet wurde, so sind wir nicht“, sagt Alassa. „Wir sind keine Kriminellen.“ Dann setzt sich der Demonstrationszug in Bewegung, zurück in die Innenstadt zum Maibaum. 200 Afrikaner skandieren „Stop Deportation“ – „Beendet die Abschiebungen“.

 

So viel ist sicher: Es war eine Abschiebung, die die 25 000-Einwohner-Stadt im Ostalbkreis in der vergangenen Woche auf einen Schlag bundesweit bekannt gemacht hat. 150 Flüchtlinge sollen die Polizei gewaltsam an ihrer Arbeit behindert haben. Von einem zeitweiligen Kontrollverlust des Staates und der Gefahr eines rechtsfreien Raums war die Rede.

Doch die Bewohner haben es ganz anders erlebt. Laut sei es in jener Nacht gewesen. Als er mit 40 anderen deshalb auf den Hof gekommen sei, habe der 23-jährige Mann aus Togo schon in Handschellen vor dem Polizeiauto gestanden, berichtet Isaiah Ehrauyi. Er wolle nicht nach Italien, habe der Mann gerufen. „Da haben wir auch laut Nein gesagt.“ Das sei aber kein gewalttätiger Angriff auf die Polizei gewesen, wie es später hieß. Niemand wurde verletzt, anders als bei der Razzia, mit der die Polizei drei Tage später zurückschlug. „Da wurden unverschlossene Türen eingetreten.“ Menschen seien aus dem Bett gerissen und fixiert worden und alles nur wegen einer solidarischen Aktion für einen „Brother“.

Immer wieder Doom-Doom

„Bruder“ nennen hier viele den 23-Jährigen. Verwandt ist niemand. Verwandt sind aber die Probleme. „Doom-Doom“ sagen die Flüchtlinge dazu. Das Begriffspaar lässt sich frei als das „Dublin-Verhängnis“ übersetzen. Ganz gleich, was die Fluchtgründe sein mögen: Der Asylantrag muss laut einer in Dublin geschlossenen EU-Vereinbarung in jenem Land entschieden werden, in dem die Flüchtlinge Europa erreicht haben. Für die meisten Afrikaner, die wie Ehrauyi von Libyen übergesetzt haben, ist das Italien. „95 Prozent von uns haben das Dublin-Problem“, sagt der 24-jährige Nigerianer.

Baruohomeh Tamjiku wiegt seinen acht Monate alten Sohn in den Schlaf. Der 30-Jährige beschreibt es so: Seit fünf Monaten lebe er mit seiner kleinen Familie im Camp. In dieser Zeit habe er viele arabische Leute kommen und gehen sehen. „Nur wir Afrikaner müssen bleiben und auf unsere Abschiebung nach Italien warten“, sagt Tamjiku. Auf den Verlegungsplänen in andere Lager stünde kein einziger Afrikaner. „Das frustriert und macht nervös.“ Insofern sei die Razzia schlimm gewesen. „Ich dachte, jetzt holen sie uns alle ab.“Nach Italien will hier niemand. Eine junge Frau erklärt, warum: „Da wartet auf uns schon am Flughafen der Zuhälter mit der dicken Goldkette – wir landen wieder alle auf dem Strich.Und unsere Männer müssen als Tagelöhner schuften und auf der Straße schlafen.“

Dass die Stimmung nach den Vorkommnissen der vergangenen Woche immer noch aufgeheizt ist, muss am Dienstag auch der Einrichtungsleiter Berthold Weiß feststellen. Am Nachmittag hat er zu einer Bewohnerversammlung eingeladen. Obwohl ein Drittel der 480 Insassen aus Asien stammt, sitzen nur Afrikaner im Saal. „Die anderen glauben, dass sie das Problem nichts angeht“, sagt ein Sozialarbeiter.

Nicht nur als Lea-Chef, sondern auch als Grünen-Gemeinderat liegt Weiß der gute Ruf seiner Einrichtung am Herzen. Gerne würde er es sehen, wenn die Stadt den 2020 auslaufenden Vertrag mit dem Land verlängern würde. Doch die Eskalation der vergangenen Woche hat die Befürworter der Lea in die Defensive gebracht. Jetzt will Weiß wieder für Ruhe sorgen. Eindringlich spricht er seinen Zuhörern ins Gewissen. „Stellt euch vor, ihr wärt die deutsche Polizei, die ihren Job zu machen hat und die daran von 150 Leuten gehindert wird. Was wäre eure Reaktion?“, fragt er in die Runde.

Fast eine halbe Stunde hören ihm die knapp 100 Flüchtlinge im Saal geduldig zu. Doch als Weiß vorschlägt, wegen der schlechten Akustik gleich zu Einzelgesprächen vor der Tür überzugehen, platzt vielen im Publikum der Kragen. „Wir haben zugehört und Ihnen Respekt gezollt. Jetzt sind wir an der Reihe“, sagt einer unter dem heftigen Applaus seiner Mitbewohner.

„Es geht immer nur um unsere Hautfarbe“

War die Razzia am Donnerstag überhart, wie die Flüchtlinge finden? Oder war sie die angemessene Reaktion des Rechtsstaats auf eine Provokation? Warum war im Polizeibericht nur von Schwarzafrikanern die Rede, obwohl auch Flüchtlinge anderer Nationen beteiligt waren und sogar in Haft kamen? „Es geht immer nur um unsere Hautfarbe“, schreit einer mit Tränen in den Augen und schlägt sich immerfort mit dem Zeigefinger auf den Unterarm. Nach den Vorfällen spricht die FDP im Landtag von rechtsfreien Räumen und die AfD von Staatsversagen. Die grün-schwarzen Regierungsfraktionen weisen das strikt zurück – mit Unterstützung der oppositionellen SPD.

Immerhin kommen sich Polizei und Flüchtlinge an diesem Mittwoch noch näher. Bevor am frühen Abend der Demonstrationszug startet, treffen sich Vertreter beider Seiten im Rathaus. „Wir haben unsere verschiedenen Wahrnehmungen dargestellt, das war lehrreich für beide Seiten“, sagt der Einsatzleiter der Polizei, Peter Hönle. Abschiebungen werde es allerdings weiterhin geben, zukünftig aber wohl nicht mehr mit einem solchen Großaufgebot wie bei der Razzia am Donnerstag.

Im vergangenen Jahr gab es laut Lea-Chef Weiß rund 130 Versuche der Polizei, Flüchtlinge abzuholen. Nur 25 davon gelangen. „Abgelehnte Asylbewerber rechnen damit, dass sie geholt werden“, schildert Weiß. „Sie schlafen dann in anderen Räumen oder verstecken sich auf dem Gelände, und die Polizei zieht wieder ab.“ Mit erneutem aktivem Widerstand rechnet Weiß nicht.

Hoffnungszeichen für die Flüchtlinge

Am Abend teilen Stadt und Polizei mit, dass die Demo ohne Zwischenfälle beendet wurde. Er habe dennoch Zweifel, ob damit die Flüchtlinge ihre Akzeptanz in der Stadt hätten steigern können, so der Erste Bürgermeister Volker Grab (Grüne). „Ich kann das nicht nachvollziehen“, schimpft eine Frau, die den Demonstrationszug beobachtet. „Es gibt doch keine Stadt weit und breit, die sich so sehr in der Flüchtlingshilfe engagiert.“

Für viele Flüchtlinge scheint die Demo aber wichtig gewesen zu sein. So oft schon sei sie den drei Kilometer langen Weg an der Bundesstraße entlang vom Camp in die Stadt gelaufen, sagt die 20-jährige Christa Takor. So schön wie diesmal sei es aber noch nie gewesen. „Wir sind zusammengestanden.“