Die Bewohner von Lampedusa und ganz Italien trauern um die wohl mehr als 200 toten Flüchtlinge. Das Land findet kein Konzept für die Aufnahme, die Integration oder die Rückführung der ankommenden Ausländer.

Rom - Der Tag danach – es ist in Italien der Tag der Staatstrauer, der Schweigeminuten. Es ist der Tag, an dem die schwarze Integrationsministerin Cecily Kyenge – gebürtig im Kongo – ausruft: „Unter den Toten hätte auch ich sein können.“ Es ist der Tag italienisch-europäischer Schuldzuweisungen und der Tag, an dem Politiker die Bewohner von Lampedusa für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Es ist der Tag, an dem das Meer zu aufgewühlt ist, als dass Taucher die restlichen gut hundert Leichen aus dem Wrack holen könnten. Den Toten zu Ehren endet dieser Freitag auf Lampedusa in einem großen Fackelzug.

 

Drei Fischerboote sind an den Flüchtlingen vorbeigezogen

Es kommen absurde Widersprüche ans Tageslicht. Wer auf dem Meer unterwegs ist, muss laut Seerecht allen Schiffbrüchigen helfen. Laut Italiens Einwanderungsrecht lässt er es besser bleiben: Dann wird er, wie es Fischern vor Lampedusa bereits passiert ist, „wegen Förderung der illegalen Einwanderung“ ins Gefängnis geschickt. Drei Fischerboote, erzählen Überlebende, seien in der fatalen Nacht zum Donnerstag an ihnen vorbeigezogen.

Italien fragt sich, was aus den sechs Wachbooten geworden ist, die Regierungschef Berlusconi vor ein paar Jahren dem libyschen Herrscher Gaddafi überlassen hat, damit Flüchtlingskutter in afrikanischen Gewässern zurückgewiesen werden konnten. Und die damals teuer erkauften Verträge mit der Staatsmacht in Tripolis, nach denen Libyen seine annähernd zweitausend Küstenkilometer auf verdächtige Bewegungen überwachen sollte, sind nichts mehr wert, wo Stammesmilizen ihre eigenen lukrativen Geschäfte mit dem Flüchtlingshandel machen und wo Rom, wie geschehen, im innenpolitischen Wirbel die Außenpolitik schleifen lässt. Die vor Lampedusa Ertrunkenen sind von Libyen aus aufgebrochen.„Das vor Lampedusa, das ist Europas Grenze“, sagt Italiens Innenminister Angelino Alfano: „Europa muss diese Grenze schützen. Aber geschieht das wirklich? Ein Staat, der seine Grenze nicht schützt, existiert schlicht und einfach nicht.“ Und Frontex, die europäische Überwachungsbehörde? „In der Theorie gibt es sie. Praktisch zeitigt sie keinerlei Wirkung.“

Italien fühlt sich allein gelassen – ist es aber nicht

Italien allein gelassen mit einem eigentlich europäischen Flüchtlingsproblem? Die Zahlen des UNHCR, des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, sagen anderes. Von 2008 bis 2012 haben in Italien 107 000 Flüchtlinge um Asyl gebeten, in Deutschland nahezu die doppelte Zahl: 201 350. In Frankreich waren es gar 232 680. Und die Zahl der Asylsucher in Italien ist von 2011 auf 2012, also nach dem Arabischen Frühling, auch noch um mehr 50 Prozent gesunken, in Deutschland hingegen um fast die Hälfte (41 Prozent) gestiegen. Unter den 44 Industrieländern auf der UNHCR-Liste nimmt Italien nur den zwölften Platz in der Asylnachfrage ein. Da tragen also andere weit größere Lasten.

Italien hat kein Konzept in der Ausländerpolitik

Das Unbehagen, rügen Leitartikler, rühre auch daher, dass Italien kein Konzept in der Ausländerpolitik habe. Die Aufnahme von Bootsflüchtlingen werde nur lokal und nach dem Feuerwehrprinzip geregelt; Vorsorge, Bedarfsermittlung: Fehlanzeige. Das Aufnahmezentrum in Lampedusa ist seit dem Brand 2011 nur zum kleinen Teil wiederaufgebaut worden. So manches Übergangslager auf dem Festland wird nur lax überwacht: Wer weglaufen kann, läuft weg. Und in der Konzentration, die sich nach jedem Schiffbruch auf Verletzte und Tote richtet, verschwinden die Überlebenden spurlos. Dass sie aufgespürt und als illegale Einwanderer abgeschoben werden, ist unwahrscheinlich: Das trifft nach diversen Studien nur zwei oder drei Prozent. Die Rückführung in die Heimatländer ist, wie man im Innenministerium zugibt, zu teuer. Auch bindet sie zu viele Polizeikräfte.Zusätzlich ist wegen den zahlreichen legalen Zuwanderern aus osteuropäischen EU-Ländern – Italien hat die Hindernisse für Rumänen und Bulgaren viel früher und entschiedener weggeräumt als Deutschland – der Anteil von nicht integrierten Fremden so rapide angestiegen, dass die prinzipiell tolerante Bevölkerung murrt. In Norditalien vor allem, wo sich viele Zuwanderer ballen. In diversen Legalisierungskampagnen sind zwar bereits mehr als eine Million Ausländer zu gültigen Papieren gekommen, aber aufgrund fehlenden oder richtungslosen politischen Gestaltungswillens bleibt in den Augen der Bevölkerung vieles recht dubios. Da ist es gut, wenn die EU, „die Leute in Brüssel“ als Prellbock herhalten können.

In Norditalien ballen sich viele Zuwanderer

„Es ist gut, dass das ganze Land trauert. Es ist gut, dass Regierungsvertreter hier sind. Das kommt nicht alle Tage vor. Aber es kann nicht so weitergehen. Das ganze Denken muss sich ändern.“ Worte von Giusy Nicolini, der Bürgermeisterin von Lampedusa, am Tag nach der Katastrophe.