Das Auslaufen von Flüchtlingsbooten lässt sich kaum verhindern – auch wenn politische Hetzkampagnen etwas anderes unterstellen. Italien ruft nach Europa, krankt aber am Fehlen innerer Solidarität.

Rom - Dass ausgerechnet der Moment ihrer Rettung der gefährlichste sein kann für Bootsflüchtlinge, das zeigt sich fast jede Woche neu: Schiffe der italienischen Küstenwache oder zufällig vorbeikommende Frachter gehen längsseits zu den regelmäßig überfüllten, kaum aus den Wellen ragenden Schlauch- oder Fischerbooten; voller Aufregung und froher Erwartung   stürzen sich die Flüchtlinge alle auf die eine Seite ihres Gefährts – und kentern mit ihm. Ob das Wasser nun winterkalt oder sommerlich warm ist, spielt für die Überlebenschance gar keine Rolle: die meisten Flüchtlinge kommen aus afrikanischen Binnengegenden, haben das Meer nie gesehen, können nicht schwimmen und entgleiten entkräftet – so beschreiben es Retter immer wieder – den helfenden Händen.

 

So war es im April 2011, als vor Lampedusa etwa 250 Schwarzafrikaner ertranken; so passiert es häufig, wie Videos der Küstenwache zeigen, so kam es wohl auch in der Nacht zum Sonntag. Selbst während jener zwölf Monate, in denen Italien sein großes Such- und Rettungsprogramm „Mare Nostrum“ betrieb, kam es nach Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks zu 3500 Toten – bei jedoch 180 000 Geretteten.

Berlusconis Vereinbarung mit Diktator Gaddafi

Italien war schon einmal weiter. Silvio Berlusconis Regierung hatte mit Libyen im Jahr 2008 einen umfangreichen „Freundschaftsvertrag“ ausgehandelt; Italien hatte dem   gegenüberliegenden Mittelmeer-Anrainer   sechs Küstenwachboote überlassen und mit Milliardenzusagen versucht, Tripolis auch zur Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage zu bewegen. Das hieß: Libyen sollte das Auslaufen der Boote unterbinden; ganz Europa hätte an dieser Front (mehr) Ruhe gehabt, es hätte zumindest im Mittelmeer weniger Tote gegeben. Was allerdings mit den tatsächlich Asylberechtigten passiert wäre, die sich seit Jahren in Libyen zur Überfahrt ins „goldene“ Europa sammeln, dafür haben sich Berlusconis Leute nie interessiert.

Egal: die seltsame „Freundschaft“ hat sich ohnedies erledigt. Berlusconis damaliges Gegenüber, Diktator Muammar al-Gaddafi, existiert nicht mehr; der Staat Libyen, mit dem man Verträge schließen könnte, existiert nicht mehr.   Die Idee von Berlusconis politischen Nachfahren, europäische „Aufnahmezentren“ auf libyschem Boden einzurichten, ist derzeit genauso unrealistisch wie die Beendigung aller Kriege, aller menschlichen und politischen Nöte, die Afrikaner zur Flucht nach Europa treiben. Das heißt: die Boote fahren weiter, die nächsten Tragödien kommen bestimmt.

Italien wird das Hauptziel der „boat peope“ bleiben

Und Italien wird, der nun einmal unabänderlichen geografischen Nähe wegen, das Hauptziel der „boat people“ bleiben. Von etwa 278 000 Flüchtlingen, die vergangenes Jahr Europa erreichten, landeten 170 000 in Sizilien, in Kalabrien, in Apulien. Die Aufnahmelager dort sind übervoll, die Behörden allein mit der Registrierung der Ankömmlinge überfordert. Europa oder einzelne Staaten, die Italien kritisieren, helfen nicht einmal bei der administrativen Bewältigung des Ansturms.

Aber in einem Italien, das angesichts der Flüchtlingsmengen so laut – und zu Recht – nach Europa ruft, ist nicht einmal die innere Solidarität gewährleistet: Der reiche Norden, der den Mezzogiorno bei jeder Gelegenheit der Ineffizienz, des Schmarotzertums, der Mafia und der Korruption zeiht, lässt genau diesen Süden mit dem Flüchtlingsproblem, soweit es irgend geht, allein. Die Rechten im Norden, der ungehobelte Lega-Führer Matteo Salvini in erster Linie, treiben auch noch ihren privaten Wahlkampf auf dem Rücken der Ankömmlinge: einzig   die „linke“ Regierung Renzi sei schuld an dieser „Invasion durch angebliche Flüchtlinge“, sagen sie, und bei den Regionalwahlen am 31. Mai, bei denen halb Italien zu den Urnen geht, wird man sehen, wie diese Stimmungsmache verfängt.