Spielepatinnen gehen in Familien, um ihnen ein bisschen Abwechslung zu bescheren. Die Kinder wie auch die Erwachsenen lernen dabei deutsche Grundbegriffe und Redewendungen. Und: dass man sich an Regeln halten muss.

Holzgerlingen - Memorykarten liegen auf dem Tisch der Familie al-Salama. „Wer fängt an?“, fragt Karin Steimle. Die 51-jährige Holzgerlingerin ist eine von 15 Spielepatinnen im Kreis Böblingen. Sie besuchen einmal pro Woche Flüchtlingsfamilien – um mit ihnen eine Stunde lang zu spielen. Das Kooperationsprojekt mit dem Landratsamt hat die Pädagogin Susanne Dietenberger vor drei Jahren aus der Taufe gehoben. Es trägt den Namen „Kinder und Wir“. „Hut ab, was da im Verborgenen läuft“, sagt Maya Wulz, die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Herrenberger Gemeinderat, die selbst als Patin Flüchtlingsfamilien besuchte.

 

Beim Spielen ist es wie im richtigen Leben

Auch bei Familie al-Salama wird gespielt. Ayad al-Salama ist vor drei Jahren mit seiner Frau und seinen drei Kindern aus Syrien geflüchtet. Er spricht fast kein Wort Deutsch. Aber ihm entwischt ein lang gezogenes „Nein“, als er beim Memoryspiel wieder kein Kartenpaar erwischt. „Es ist in patriarchalischen Strukturen nicht üblich, dass Väter mitspielen“, erklärt Susanne Dietenberger. Für einen syrischen Mann gehöre Überwindung dazu, gegen seine Kinder zu verlieren. Doch das ist bei Memory quasi unvermeidlich. Die achtjährige Lien wird nach dem Spiel die meisten Kartenpärchen haben. „Den Kürzeren zu ziehen fällt manchen richtig schwer“, sagt Dietenberger.

„Es geht auch nicht, dass man sich gegenseitig sagt, wo das Kärtchen liegt, das zum anderen passt“, erklärt sie. Das gehöre einfach zu den Spielregeln. Sie und die Spielepatin Karin Steimle wachen an diesem Abend bei der Familie al-Salama darüber, dass die Regeln eingehalten werden – und dass immer derjenige ein Kärtchen aufdeckt, der an der Reihe ist. Nur so kann das Miteinander funktionieren, beim Spielen und im richtigen Leben.

Vor verschlossenen Türen

In der Holzgerlinger Flüchtlingsunterkunft läuft das prima, die Familie lernt beim Spielen nebenbei auch Deutsch. Denn jedes Mal, wenn ein Kärtchen umgedreht wird, sagen alle, was darauf zu sehen ist: ein Fußball, Buntstifte, eine Stadt, das Meer, eine Rose, Käse. Selbst der vierjährige Qais und seine fünfjährige Schwester Sidra kennen die Worte schon, weil Karin Steimle schon seit März 2016 zu den al-Salamas kommt. Stets am selben Werktag und zur selben Uhrzeit.

„Verlässigkeit und Verbindlichkeit sind bei unserem Projekt ganz wichtig“, sagt Dietenberger. Aber bisweilen standen die Patinnen auch schon vor verschlossenen Türen. Manchmal wollte eine Familie das Spieleangebot auch nicht mehr in Anspruch nehmen.

Wegen des Krieges traumatisiert

Für die Familie al-Salama ist es nach wie vor eine willkommene Abwechslung, wenn Karin Steimle zu ihnen kommt. Sie hat immer eine Handpuppe dabei. Dieses Mal war es die Puppe von Susanne Dietenberger, „der Gregor“, der alle begrüßte und fragte: „Wie heißt du?“. Die Puppe sei das nötige Zwischenmedium und zumindest am Anfang nötig, um das Eis zu brechen und gute Laune zu verbreiten. Nicht nur die Kinder, auch die Eltern sagen dann ihre Namen.

„Erreichen wir die Kinder, dann erreichen wir auch die Erwachsenen“, so fasst Dietenberger ihre Erfahrung zusammen. Denn die aus Kriegsgebieten Geflohenen sind meist traumatisiert und haben es im deutschen Alltag nicht leicht. Die achtjährige Lien geht in Holzgerlingen in eine Schule „und muss die erste Klasse wiederholen“, erzählt Steimle. Der Vater sagt von sich, dass er in Damaskus Taxifahrer gewesen sei. Radebrechend versucht er, sich verständlich zu machen, sagt, dass er Geld verdienen möchte. Auch ein Putzjob wäre ihm recht. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist auf ein Jahr ausgestellt. Zurzeit mache er einen Deutschkurs, lässt der Mann wissen. Mehr ist von ihm jedoch nicht zu erfahren.

Es entwickelten sich Freundschaften

Als Karin Steimle Bilder zum Ausmalen verteilt – auch dies ist stets ein Ritual am Schluss der Spielstunde –, ist Ayad al-Salama auf einmal verschwunden. „Er malt nicht gerne“, sagt Steimle. Währenddessen unterhält sie sich mit den Kindern: „Wenn es schneit, könnt ihr einen Weihnachtsmann bauen. Habt ihr so etwas schon gemacht?“ Auch das Thema Schokolade kommt auf den Tisch, ebenso das Zähneputzen. „Ich gehe zum Zahnarzt“, erzählt Lien stolz, die damit sagen möchte, dass sie das Problem erkannt hat.

Unterdessen ist Ayad al-Salama auf einmal wieder da. Er verteilt Getränkedosen an alle und etwas zum Knabbern. Offenbar hat er inzwischen kurz in einem Supermarkt eingekauft. Die Spielestunde verging wie im Flug. „Wenn die Patinnen mehr für die Familien machen wollen, dann können sie das natürlich“, sagt Dietenberger. Es hätten sich auch schon Freundschaften entwickelt. Auch Ayad al-Salama ist ein offener Mensch: Er lädt die Patinnen zum Übernachten ein. Die Frauen werten das als besonders gastfreundliche Geste. Karin Steimle kommt aber lieber mit dem Memory und den Malsachen wieder.

Auch Männer im Einsatz

Projekt
: Die Spielepatinnen von „Kinder und Wir“ sind im ganzen Landkreis unterwegs und besuchen Flüchtlingsheime. Sie haben diverse Spiele dabei, Mal- und Bastelsachen. Eineinhalb Jahre finanzierte die Initiatorin Susanne Dietenberger das Projekt mit Spenden, seit dem Jahr 2015 wird das Kooperationsprojekt mit dem Landratsamt vom Kreis finanziert.

Teilnehmer
: Rund 50 Ehrenamtliche wurden für das Projekt geschult, darunter auch Ehepaare und vereinzelt berufstätige Männer. Derzeit sind 15 Patinnen und Paten im Einsatz.

www.kiwir.de