Mohammed Assaf, ein 23-jähriger Flüchtling aus einem Camp im Gazastreifen, gewinnt die Castingshow „Arab Idol“. Halb Palästina flippt aus vor Freude. Sogar die Politik bewundert ihn.
Ramallah – Schon seit Stunden harren sie auf Brüstungen, Dächern und sogar auf den Löwenstatuen am Manara-Platz aus – überall, wo man sich festklammern kann, um einen besseren Blick auf das Spektakel zu erhaschen. Die Spannung hat sich seit Tagen, ja Wochen aufgebaut, nicht nur im Gazastreifen, auch im Westjordanland wie hier in Ramallah. Heute ist die Nacht der Entscheidung, das Finale. Wird Mohammed Assaf, der Junge aus dem Flüchtlingslager in Chan Junis, der schon als Kind auf Hochzeiten sang, tatsächlich die meisten SMS bekommen, um neuer Superstar von „Arab Idol“ zu werden, der erfolgreichsten Castingshow des saudischen Satellitensenders MBC-1 mit mehr als hundert Millionen Zuschauern?
„Es gibt keinen Palästinenser, der jetzt nicht vor dem Fernseher sitzt“, sagt Hala Abu Shilbayih. „Wir alle fiebern mit Assaf. Er ist einer von uns, wir fühlen mit ihm wie mit einem Bruder oder Sohn.“ Die 33-jährige Grafikerin hockt mit Mann und Kindern im Saftladen an der Ecke, um sich von dem Rummel draußen zu erholen. Am Manara-Platz wird es immer voller. Auf der Hauptstraße Richtung Jerusalem, in die ein hoch aufgehängter Videobildschirm wie ein gigantisches Schild hineinragt, ist kein Durchkommen mehr. Die Menge badet in der Vorfreude. Wie steigerungsfähig diese Stimmung noch ist, zeigt sich am Samstagabend kurz vor Mitternacht. Ungeheures Jubelgeschrei bricht aus, als nach schier endlosen Werbeunterbrechungen und immer neuen Sangeseinlagen der Sieg ihres Idols verkündet wird. Ganz Palästina scheint in einen kollektiven Begeisterungstaumel zu fallen. Feuerwerkskörper krachen, Nationalfahnen werden geschwenkt. Es wird getanzt, gesungen und gejohlt, als ob man die Fußball-WM gewonnen hätte oder zumindest die ultimative Meisterschaft der arabischen Welt.
Sie nennen ihn „Helden“ oder „Die Stimme Palästinas“
Ein bisschen ist es ja auch so. Mohammed Assaf ist ein Held, wie sie noch keinen hatten. „Die Stimme Palästinas“ nennen sie den 23-Jährigen aus Gaza. Mit seinem ausdrucksvollen Gesang, patriotischen Volksliedern und einem unverbrauchten strahlenden Lächeln hat er sich gegen 26 Mitbewerber aus nahezu allen arabischen Staaten durchgesetzt. Eine große Karriere wird ihm vorhergesagt. Den Plattenvertrag hat er, einen Sportwagen gab es für ihn in Beirut, wo „Arab Idol“ produziert wird, obendrauf und dazu jede Menge Glitter, Kitsch und Pomp.
Seine Geschichte wird vermutlich irgendwann als palästinensische Variante von „Slumdog Millionär“ verfilmt werden. Jedes Kind, ob in Ramallah, Gaza-City oder Nazareth, kann sie erzählen. Wie Mohammed Assaf es wegen der Grenzschikanen in Rafah beinahe nicht zum ersten Casting nach Kairo geschafft hätte. Wie die Türen dort schon geschlossen und die Anmeldenummern vergeben waren. „Aber er ließ nicht entmutigen und kletterte über eine Mauer“, erzählt die neunjährige Hiam. „Und weil er so schön singen konnte, überließ ihm ein Mitbewerber seinen Platz.“ Hiam und ihre Freundinnen sind glühende Verehrerinnen. „Wir lieben seine Musik“, sagt Hiam. „So einen möchten wir heiraten.“
Auch die Hamas drückt ihre Anerkennung aus
Doch seine Wirkung geht über kindliche Schwärmerei weit hinaus. „Assaf hat eine Botschaft, die die Leute einander näherbringt“, sagt Hiams Vater, Ashad Hamideh, der mit seiner Familie in Kalifornien lebt, aber den Sommer über die Verwandten in Ramallah besucht. „Er präsentiert sich bei seinen Auftritten als Sohn Palästinas. Damit können wir uns alle identifizieren, in Gaza, der Westbank und im Exil.“ Mohammed Assaf scheint etwas geglückt zu sein, woran die Politiker gescheitert sind: Das Volk sieht in ihm ein Symbol der lang vermissten palästinensischen Einheit. Sogar die Hamas daheim in Gaza, deren erzkonservative Klerikale am Anfang die freizügig inszenierte Show, in der Männer und Frauen gemeinsam antreten, als unislamisch hinstellte, versucht es nun mit Vereinnahmung. Der Präsident und Fatah-Chef Mahmud Abbas kam ihr noch zuvor und pries Assaf als „Stolz Palästinas und der arabischen Nation“.
Für das frisch gekürte Idol ist das alles ein bisschen viel. Schmaler als bei den Ausscheidungsrunden sah er beim Finale aus, offenbar Folge einer Viruserkrankung. „Jeder kämpft auf seine Art“, sagt er nach der Preisverleihung. „Ich tue es mit meiner Kunst.“ Damit hat er den Palästinensern eine Nacht beschert, wie sie sie noch nicht erlebt haben. Bis in den frühen Morgen kurven hupende Autokorsos durch Gaza und die Westbank, die meisten voll bepackt mit Jungs, die sonst eher beim Steinewerfen an israelischen Checkpoints zu sehen sind. „Aber heute“, rufen sie überglücklich, „fühlen wir uns einfach nur gut“.