Der Besuch der Kanzlerin in einem Flüchtlingslager nahe der syrischen Grenze kommt zu einer Zeit, da die Abhängigkeit von Ankara in der Kritik steht wie nie zuvor.

Berlin - So nah ist Angela Merkel dem Ursprungsort der Krise, die sie in die größten Probleme ihrer Kanzlerschaft gestürzt hat, noch nicht gekommen: Kaum 50 Kilometer von der Grenze zu Syrien, wo der Bürgerkrieg Millionen in die Flucht geschlagen hat, liegt die Stadt Gaziantep, wo sie an diesem Samstag erwartet wird. Merkel will sich ein Bild davon machen, wie der Flüchtlingspakt zwischen der Europäischen Union und der Türkei vor Ort umgesetzt wird. Neben einem Gespräch mit Ankaras Premier Ahmet Davutoglu stehen auch der Besuch des nahegelegenen Flüchtlingslagers Nizip sowie die Eröffnung eines neuen Hilfsprojekts auf ihrer Agenda.

 

Drei Milliarden Euro fließen dafür insgesamt aus den EU-Staaten in die Türkei, wo rund 2,5 Millionen Flüchtlinge leben und der Regierung in Ankara hohe Kosten verursachen. „Jetzt teilen wir ihre Lasten und helfen, das Los der Flüchtlinge zu verbessern“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag. Die Schutzsuchenden aus Syrien sollen – so das Ziel – menschenwürdig leben und ihre Kinder in der Türkei zur Schule schicken können, auf dass sie eine Lebensperspektive in der Türkei sehen und sich gar nicht erst auf den Weg Richtung Europa machen.

Klar ist, dass Merkel die Türkei braucht

Mit der Visite demonstriert Merkel, die sich einer EU-Reise von Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionsvize Frans Timmermans anschließt, dass das europäische Steuerzahlergeld zweckgebunden ausgegeben werden muss und Ankara eben nicht zur freien Verfügung steht, um etwa verstärkt militärisch gegen die Kurden oder strafrechtlich gegen Journalisten vorzugehen.

Bei einer Pressekonferenz an der Universität von Gaziantep dürfte sie dennoch gefragt werden, wie sie es mit der Presse- und Meinungsfreiheit hält. Der Fall des vom türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan verklagten deutschen Satirikers Jan Böhmermann reist mit. Obwohl es rechtstaatlich sauber ist, die Justiz entscheiden zu lassen, ob es sich bei dessen „Ziegenficker“-Gedicht um eine unzulässige Schmähung handelte, hat Merkels Entscheidung politisch doch bei vielen Bürgern und Beobachtern den Eindruck einer Abhängigkeit von Ankara entstehen lassen – zumal sie es schon zuvor selbst als „bewusst verletzend“ bezeichnet und damit Erdogan möglicherweise indirekt erst zu einer Klage ermuntert hatte.

Klar ist, dass Merkel die Türkei braucht, damit die zuletzt stark gesunkene Zahl der über die Ägäis fliehenden Menschen nicht wieder steigt. Die Zugeständnisse für die Rücknahme aller in Griechenland anlandenden Flüchtlinge war hoch – von der Milliardenzahlung über die geplante Visafreiheit für Türken bei Reisen in die EU bis hin zur Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses. Dass der Preis auch ein Wegsehen bei Menschenrechtsverletzungen in der Türkei beinhaltet, bestritt Merkels Sprecher Seibert am Freitag erneut vehement: „Die Bundeskanzlerin hat sehr klar auf Entwicklungen hingewiesen, die uns Sorgen machen.“ Dazu gehören die Besetzung der Zeitung „Zaman“ im März oder auch die jüngste Weigerung, einen ARD-Korrespondenten einreisen zu lassen. Merkel hat mehrfach betont, erst die jüngste Vertiefung der deutsch-türkischen Beziehungen erlaube es überhaupt, sich regelmäßig zu diesen Themen auszutauschen. Allerdings tut sie dies mit Premier Davutoglu, der Kontakt mit Erdogan ist weit weniger eng. Ein EU-Diplomat beschreibt die von der Türkei gewählte Arbeitsteilung ein wenig anders: „Davutoglu ist für die guten Beziehungen zur EU zuständig, Erdogan dafür, den Europäern immer wieder die eigene Abhängigkeit vor Augen zu führen.“