Das Kornhaus ist Café und Manufaktur zugleich. Das Flüchtlingsprojekt umfasst aber einen weiteren Aspekt – und ist deshalb weithin einzigartig.

Korntal-Münchingen - Zwischen 12 und 14 Uhr herrscht Hochbetrieb. Dann bestellen im Kornhaus in Korntal viele Gäste den Mittagstisch. Er wechselt täglich. Tamer Al Ibrahim rennt von einem Tisch zum anderen. Er nimmt Bestellungen auf, serviert Getränke, Nudeln und Fladenbrot, räumt leeres Geschirr in die Küche.

 

Stress? Der 25-Jährige winkt ab. Für ihn ist die Arbeit eine Wohltat. Zumindest die im Service, die mache ihm richtig Spaß. „Da bin ich mit den Leuten in Kontakt“, erklärt Tamer Al Ibrahim, während er ein Tablett mit benutzten Gläsern belädt. Er betrachtet die Arbeit aber auch pragmatisch. „Der Kontakt mit den Gästen hilft mir, die deutsche Sprache zu verbessern.“

Tamer Al Ibrahim ist geflüchtet. Am 12. Juli 2015 ist er aus Syrien in Deutschland angekommen. Allein. Seine Familie – Mutter, Vater, Bruder, Schwester – hat er in der Hauptstadt Damaskus zurückgelassen. Zuerst lebte er zwei Jahre lang in Bayern. Eine Zeit, an die er mit Bauchweh zurückdenkt. „Ich habe mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Container im Wald gewohnt“, erzählt Tamer Al Ibrahim, ohne jeglichen Kontakt zu Deutschen. „Das fehlte mir sehr. Die Sprache ist der Schlüssel, und ich will gern in Deutschland bleiben.“ Über einen Freund, der im Kornhaus arbeitet, wurde er auf die Einrichtung aufmerksam.

Vor knapp zwei Jahren hat sich eine Privatinitiative zu einem Verein zusammengeschlossen. Das „Saatkorn Projekt“, so der Vereinsname, verschrieb sich der Integration von Flüchtlingen. Der Verein wollte jungen Erwachsenen zwischen 18 und 24 Wohnraum anbieten und sie gleichzeitig über die Arbeit in die Gesellschaft integrieren.

Ein Bäcker hilft bei der Nudelproduktion

Der Verein mietete zwei Wohnungen in einem Mehrparteienhaus in Korntal an. Nach und nach zogen acht Männer, Afghanen und Syrer, in die Wohngemeinschaft. Der Verein stellte einen Integrationsbegleiter sowie einen Sozialpädagogen an. „Beide sind ein Garant für den Erfolg“, betont Monika Klotz deren Notwendigkeit. Die stellvertretende Vereinsvorsitzende leitet das Projekt. Ein halbes Jahr später öffnete wenig entfernt das Kornhaus. Es ist sowohl Café als auch Nudelmanufaktur. Seit einem Jahr produzieren Flüchtlinge hier Nudeln unter Anleitung eines Bäckers.

Joana Kretzer leitet das Café, das sie auch konzipiert hat. Bis auf die Stühle ist die Einrichtung in Eigenleistung und mit Hilfe von Daimler-Mitarbeitern entstanden, die im Rahmen eines Sozialprojekts ihre Arbeitszeit stifteten. Im Café finden 30 Gäste Platz, draußen, auf den Sofas mit den dicken Polstern, 15. Die selbstständige Gestalterin für visuelles Marketing hat im Kornhaus eine Halbtagsstelle. Das Café, sagt die 25-Jährige, sei gut besucht. Es lockt neben Geschäftsleuten und Schülern, die zum Mittagessen kommen, hauptsächlich Gäste an, die neugierig sind oder für die es selbstverständlich ist, dass hier Flüchtlinge leben. „Wir integrieren Flüchtlinge nicht nur in die Arbeit, wir bringen Integration auch auf den Tisch. Das ist den Kunden bewusst“, sagt Joana Kretzer. Sie bedauert es fast ein wenig, dass kaum Menschen kommen, die skeptisch sind. „Es geht bei uns ja auch um den Austausch miteinander.“ So käme regelmäßig eine Lehrerin, die Arabisch spricht und sich freut, wenn sie sich mit einem Flüchtling unterhalten kann.

Ein Sozialarbeiter begleitet die Flüchtlinge

Der Austausch kostet zunächst aber vor allem die Flüchtlinge viel Überwindung. „Am Anfang trauen sie sich nicht, mit Gästen zu sprechen und arbeiten lieber in der Küche“, stellt Samuel Aßmann fest. Der Sozialarbeiter begleitet die Geflüchteten im Alltag und bei der Berufsorientierung. Die Arbeit im Café beschreibt er als „hilfreich für den Einstieg in das Berufsleben. Die jungen Männer haben eine große Entwicklung in der Selbstständigkeit und im Selbstbewusstsein gemacht“, sagt Aßmann. Er lernt die Geflüchteten als hilfsbereit und fleißig kennen. „Die Jungs packen mit an, selbst wenn kurz vor Feierabend noch eine Gruppe Gäste kommt.“

Tamer Al Ibrahim, der gerade freundlich lächelnd zwei Tassen Kaffee serviert, gehört zu den besonders wissbegierigen Flüchtlingen im Kornhaus. Der 25-Jährige selbst winkt auch bei diesem Thema grinsend ab, dafür plaudert der Ehrenamtliche Christian Hiller aus dem Nähkästchen. Der Maschinenbauer, der nach seinem Studium in der Region einen Job sucht, berichtet: „Tamer fragt mich ständig, wie zum Beispiel ein bestimmtes Wort heißt. Manchmal verwirrt es ihn auch, wenn Verben ähnlich klingen, aber völlig unterschiedliche Bedeutung haben.“ Neue Vokabeln würde Tamer Al Ibrahim sofort in ein Heftchen schreiben.

Kulturelle Unterschiede schwinden

Dagegen verinnerlichen die Flüchtlinge kulturelle Unterschiede automatisch. Mahir Ghalioun lacht, wenn er daran denkt, wie fremd ihnen etwa Dienstpläne waren. Der Integrationsbegleiter ist Anfang 2000 aus dem Irak gekommen und hilft an jenem Mittwoch in der Küche aus. „In den Nahost-Ländern geht es weniger strikt zu. Man nimmt Pünktlichkeit nicht so genau. Hier gibt man Bescheid, wenn man eine Viertelstunde später zur Arbeit kommt“, sagt Ghalioun. Und anders als in Deutschland, wo die Zeit für den Feierabend klar definiert ist, machten die Mitarbeiter im Nahen Osten nach eigenem Ermessen Schluss.

Der Betrieb läuft, doch ihn zu organisieren, ist komplex. Der Dienstplan besteht aus „vielen Beteiligten mit kleinen Zeitbudgets“, sagt Klotz. Die 51-Jährige erzählt zudem von bürokratischen Hürden, die das Projekt überwinden muss. Vorbilder gibt es dafür nicht. Vielmehr erhält Klotz nun Anfragen aus ganz Deutschland. Doch so erfolgreich das Projekt läuft, es ist nach wie vor jeden Monat auf mehrere Tausend Euro Spenden angewiesen: Integration kostet Zeit und benötigt Mitarbeiter, die nicht nur fachlich geschult sein, sondern auch mit traumatisierten Flüchtlingen umgehen können müssen.

Was das bedeutet, wurde Joana Kretzer im Winter bewusst, als ein Auto ins Café gerauscht ist. Der Fahrer habe Bremse mit Gas verwechselt. Bei Flüchtlingen, die Krieg und Gewalt kennen, reiße so ein Erlebnis alte Wunden auf, sagt Kretzer. Selbst ein Klatschen oder brechendes Glas könnten „eine schlimme Situation“ sein. „Man vergisst im Alltag schnell, woher die Jungs kommen und was sie erlebt haben.“ Und doch haben zwei inzwischen Praktika in der freien Wirtschaft gemacht.

Zukunftspläne ewrden geschmiedet

Das Kornhaus selbst will sich etablieren. Es kooperiert einerseits mit der Stadt. Andererseits können in der Manufaktur inzwischen Nudeln in Form jedweder Firmenlogos produziert werden. Für eine Teilfinanzierung des Gesamtprojekts verhandelt der Verein derzeit mit dem Integrationsministerium.

Auch Tamer Al Ibrahim schmiedet Zukunftspläne. Er will Industriekaufmann werden. Der 25-Jährige bewirbt sich, sobald er einen weiteren Deutschkurs beendet hat. „In dem Job telefoniere ich viel“, weiß er. Bis es soweit ist, plaudert er so viel wie möglich mit seinen Gästen.