Das Amtsgericht Nürtingen ist für den Stuttgarter Flughafen zuständig. Jede zweite Zivilsache dreht sich dort mittlerweile um Flugverspätungen dort. Das liegt nicht nur daran, dass es davon immer mehr gibt.

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

Stuttgart - Flugverspätungen können nervtötend sein. Von diesen hat es mit 20,7 Prozent 2016 knapp fünf Prozent mehr gegeben als im Vorjahr. Warum sich mittlerweile jede zweite Zivilsache des für den Flughafen Stuttgart zuständigen Amtsgerichts Nürtingen um Flugverspätungen dreht, hat auch einen anderen Grund: Die Firmen hinter Internetseiten wie Flugrecht oder Flightright finanzieren Prozesse von Klägern und überziehen die Fluggesellschaften geradezu mit Klagewellen.

 

Nicht unbedingt zur Freude des Gerichts. Etwa 150 Fälle monatlich beschäftigen sich dort mit Flugverspätungen. „Über doppelt so viele wie im letzten Jahr“, sagt Richter Michail Stogianidis. Laut der 2004 verabschiedeten europäischen Fluggastrechteverordnung stehen jedem Fluggast bei Verspätungen ab drei Stunden und Schuldfeststellung seitens der Fluggesellschaft 250 bis 600 Euro Schadenersatz zu.

Prozesskosten höher als Streitsummen

Einzeln sind das keine großen Beträge – häufig sind die Prozesskosten dabei höher als die Streitsumme. „Vor allem dann, wenn die Beklagte eine ausländische Fluggesellschaft ist“, sagt Stogianidis. Laut einer EU-Verordnung über Fluggastrechte besteht ein Anspruch immer bei Starts von Deutschland aus. Bei Landungen aber nur dann, wenn die Gesellschaft ihren Sitz in der EU hat – und folglich nicht in allen Fällen. Fakt ist, dass allein die Übersetzungen der amtlichen Zustellungen – etwa nach Ägypten – oft mehrere Tausend Euro kosten.

Doch manchmal wird es noch skurriler. Denn häufig können die Forderungen, vor allem in Nicht-EU-Staaten, überhaupt nicht vollstreckt werden. An ihr Geld kommen die erfolgreichen Kläger aber meistens trotzdem: Bisweilen rückt die Bundespolizei an, wenn Flugzeuge der betroffenen Gesellschaften in Deutschland haltmachten – und kontrollieren die Bordkassen oder zapften sogar Kerosin ab, um gesprochenes Recht auch durchzusetzen.

Jährlich 130 Millionen Euro

So auch in Stuttgart. „Hin und wieder kommt es vor, dass einzelne Airlines im Zahlungsrückstand sind. Dafür gibt es ein reguläres Verfahren, bei dem Rückstände in seltenen Einzelfällen auch von den staatlichen Behörden, etwa durch Pfändung, vollstreckt werden können“, sagt Johannes Schumm, Pressesprecher des Flughafens Stuttgart.

Aber zumindest wenn deutsche Fluggesellschaften an den Streitigkeiten beteiligt sind, kommt es nicht so weit. Für sie, schätzt der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL), kosten die Schadenersatzzahlungen jährlich 130 Millionen Euro. „Die Tendenz ist steigend“, sagt BDL-Pressesprecher Peter Königsfeld.

Klagen meist erfolgreich

„Das liegt daran, dass der Kunde heute aufmerksamer und besser informiert ist“, sagt Königsfeld. So habe die Schlichtungsstelle Öffentlicher Personenverkehr 2016 bis Mitte Dezember bundesweit 9931 Fälle bearbeitet. 2015 seien es dagegen noch 8708 Fälle gewesen.

Auch führende Firmen, die Verbraucher gegen Fluggesellschaften vertreten, berichten von einem Aufschwung. „Wir haben einen enormen Kundenzuwachs zu verzeichnen“, sagt Lena Knoblauch, eine Sprecherin des Fluggastrechte-Portals Flightright. Bei den übernommenen Fällen könne die Firma eine Erfolgsquote von 98 Prozent vorweisen.

Kritik an Billig-Airlines

Kritik übt Flightright vor allem am Verhalten von Billig-Airlines gegenüber den Kunden, die Verspätungen erdulden mussten. „Einige von ihnen versuchen, mit unterschiedlichsten Taktiken diese Zahlungen zu umgehen“, sagt Sprecherin Knoblauch. Etwa 70 Prozent aller Flightright-Kunden berichteten, dass die Airlines ihre Entschädigungsforderungen sofort ablehnten oder auf E-Mails sowie schriftliche Forderungen nach Entschädigungen gar nicht erst reagierten.