Messingfiguren füllen die Lücken an der zerrissenen Stahlkugelkette der Überlinger Gedenkstätte. Doch niemand schließt die Lücke, die der Tod von Alina und all den anderen baschkirischen Kinder gerissen hat. Sie kann niemand ersetzen.

 

Keiner konnte dem nordossetischen Bauingenieur Vitali Kalojev die Familie wiedergeben. Jenem Unglücksmenschen, der am Katastrophenabend in Barcelona auf seine Familie wartet und wartet. Die Frau und seine Kinder sind in Moskau eher zufällig in die baschkirische Maschine eingestiegen, weil sie ihren Flug verpasst haben. Als das Flugzeug ausbleibt und Kalojev die Katastrophe realisiert, fliegt er nach Zürich, ist schließlich als erster Angehöriger am Absturzort. Er findet die Halskette von Diana, seiner vierjährigen Tochter, dann sieht er sie – scheinbar unverletzt – in einer Baumkrone. Die Äste haben den Körper aufgefangen. Sein zehnjähriger Sohn Konstantin liegt vor einer Bushaltestelle, seine Frau Svetlana in einem Kornfeld.

Er wird irre an dem Verlust, besessen von Trauer, Wut und Rachegedanken. Er will eine Entschuldigung der vermeintlich Schuldigen bei der Schweizer Flugüberwachung Skyguide, die entsetzliche Fehler gemacht hat an diesem Abend. Er isst, trinkt, schläft kaum noch. Er darf am ersten Jahrestag mit dem Skyguide-Chef Alain Rossier sprechen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Als er um eine Entschuldigung und ein Treffen mit dem diensthabenden Lotsen bittet, wird es ihm verweigert. Die Entschuldigung bekommt er nicht. Das juristische Risiko ist den Schweizern zu hoch, denn die Auseinandersetzungen mit den Angehörigen, den Fluggesellschaften und dem Hersteller des elektronischen Warnsystems um Schadenersatz haben schon begonnen.

Vitali Kalojev baut in der Heimat einen grotesk großen Marmorschrein mit den Abbildern seiner Lieben. Fast sein gesamtes Geld steckt er in das Memorial. Jeden Tag geht er hin, er lebt mit seinen Toten, schläft auch dort. Anderthalb Jahre später kommt er an einem kalten Winterabend nach Zürich-Kloten, um den Fluglotsen Peter Nielsen vor dessen Haus zur Rede zu stellen. Er tötet ihn im Affekt. Nielsens Frau und seine Kinder müssen die Bluttat miterleben. Kalojev wird verurteilt. In seiner Heimat ist er ein Held, obwohl der Präsident Nordossetiens gerade davor warnte. Nach drei Jahren kommt er frei und wird stellvertretender Bauminister.

Die Trauer ist stiller

Englisch war ihr Lieblingsfach. In der Schule übernahm sie gerne die Hauptrolle in englischen Märchenspielen. Sie las viel, konnte in zwei Tagen ein ganzes Buch verschlingen. Die Eltern mahnten sie oft, mehr draußen zu sein, aber Alina war ein häusliches Mädchen. Sie konnte stundenlang mit Askar spielen, den sie sehr liebte. Mit Ruslan ging das nicht so gut. Der ältere Bruder war ihr zehn Jahre voraus.

Askar drückt sich von der Stahlkugel ab und sagt, er habe nur noch eine blasse Erinnerung an Alina. „Ich war ja noch so klein, erst sieben Jahre alt.“ In den ersten Jahren haben sie in der Familie viel über Alina gesprochen, eigentlich täglich. Jetzt ist sie nicht mehr oft Thema. Aber sie ist immer gegenwärtig. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Stimmt das? Gibt es das? Ist der Schmerz, den der Verlust des Kindes, der Schwester auslöst, nur ein Gefühl, das der Alltag – auch er ein Gleichmacher – langsam aus dem Bewusstsein drängt und in die Erinnerung verbannt, wo irgendwann nur noch ein blasses, verschwommenes Abbild des geliebten Menschen bleibt?

Oder hört der Schmerz nie auf? Bricht er immer wieder auf, treibt er seine scharfe Klinge in die Eingeweide bei jedem Bild, das einem in die Hände fällt? Bei jedem Besuch des vermaledeiten Ortes Brachenreuthe bei Überlingen, wo man gerade in diesen heißen Sommertagen einen schrecklich wundervollen Blick über die unschuldig satte, schöne Bodensee- und Voralpenlandschaft hat. Ein Tag, wie damals am 2. Juli, als Kinderleichen auf den Straßen lagen, in Bäumen hingen und im Rumpf der Tupolew klebten, die in der Apfelplantage unterhalb der Heimschule Brachenreuthe niedergegangen war.

Messingfiguren füllen die Lücken

Messingfiguren füllen die Lücken an der zerrissenen Stahlkugelkette der Überlinger Gedenkstätte. Doch niemand schließt die Lücke, die der Tod von Alina und all den anderen baschkirischen Kinder gerissen hat. Sie kann niemand ersetzen.

Keiner konnte dem nordossetischen Bauingenieur Vitali Kalojev die Familie wiedergeben. Jenem Unglücksmenschen, der am Katastrophenabend in Barcelona auf seine Familie wartet und wartet. Die Frau und seine Kinder sind in Moskau eher zufällig in die baschkirische Maschine eingestiegen, weil sie ihren Flug verpasst haben. Als das Flugzeug ausbleibt und Kalojev die Katastrophe realisiert, fliegt er nach Zürich, ist schließlich als erster Angehöriger am Absturzort. Er findet die Halskette von Diana, seiner vierjährigen Tochter, dann sieht er sie – scheinbar unverletzt – in einer Baumkrone. Die Äste haben den Körper aufgefangen. Sein zehnjähriger Sohn Konstantin liegt vor einer Bushaltestelle, seine Frau Svetlana in einem Kornfeld.

Er wird irre an dem Verlust, besessen von Trauer, Wut und Rachegedanken. Er will eine Entschuldigung der vermeintlich Schuldigen bei der Schweizer Flugüberwachung Skyguide, die entsetzliche Fehler gemacht hat an diesem Abend. Er isst, trinkt, schläft kaum noch. Er darf am ersten Jahrestag mit dem Skyguide-Chef Alain Rossier sprechen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit. Als er um eine Entschuldigung und ein Treffen mit dem diensthabenden Lotsen bittet, wird es ihm verweigert. Die Entschuldigung bekommt er nicht. Das juristische Risiko ist den Schweizern zu hoch, denn die Auseinandersetzungen mit den Angehörigen, den Fluggesellschaften und dem Hersteller des elektronischen Warnsystems um Schadenersatz haben schon begonnen.

Vitali Kalojev baut in der Heimat einen grotesk großen Marmorschrein mit den Abbildern seiner Lieben. Fast sein gesamtes Geld steckt er in das Memorial. Jeden Tag geht er hin, er lebt mit seinen Toten, schläft auch dort. Anderthalb Jahre später kommt er an einem kalten Winterabend nach Zürich-Kloten, um den Fluglotsen Peter Nielsen vor dessen Haus zur Rede zu stellen. Er tötet ihn im Affekt. Nielsens Frau und seine Kinder müssen die Bluttat miterleben. Kalojev wird verurteilt. In seiner Heimat ist er ein Held, obwohl der Präsident Nordossetiens gerade davor warnte. Nach drei Jahren kommt er frei und wird stellvertretender Bauminister.

Die Trauer ist stiller

Die Trauer der Channanovs und der anderen Angehörigen ist stiller – aber nicht weniger schwer. Askar kann darüber kaum sprechen. Aber er hält Vorträge vor seinem Mitschülern und vor Dorfgemeinschaften im Überlinger Hinterland. Er erzählt von Baschkirien und von Ufa. So kann er den Leuten seine Heimat näherbringen.

Morgen, am 1. Juli, werden seine Eltern anreisen, zusammen mit den anderen Angehörigen und Hinterbliebenen. 155 Gäste umfasst die Delegation. Auch Fidus Yamaltdinov, stellvertretender Ministerpräsident von Baschkirien, wird dabei sein. Tags drauf ist ein Treffen mit Peter Friedrich, Europa- und Bundesratsminister in Berlin, angesetzt. An der Gedenkstätte Brachenreuthe werden am Abend die Namen der 71 Absturzopfer und auch der Name Peter Nielsen verlesen. Dann sprechen christliche und moslemische Geistliche Gebete.

Auch in Ufa haben sie den Toten ein Denkmal errichtet. In vier Reihen sind die Grabsteine angeordnet, entsprechend der Sitzordnung des Flugzeugs. 55 der 71 Opfer, darunter 45 Kinder und Jugendliche, sind hier bestattet. Für den Lotsen Peter Nielsen, auch er ein Unglücksmensch, haben sie in der Skyguide-Zentrale ein Mahnmal errichtet. Es erinnert sie immer an die schwärzeste Stunde der schweizerischen Flugaufsicht. Aber das sagen sie natürlich nicht. Nielsen war an jenem Abend in der Züricher Flugüberwachungszentrale der verlassenste Mensch der Welt. Die Telefonanlage kaputt, das optische System wegen Wartungsarbeiten zum Teil abgeschaltet und sein Kollege zudem in der Pause, musste er zwei Radarmonitore gleichzeitig bedienen. Statt sich um die Flugzeuge auf Kollisionskurs zu kümmern, war er mit einem verspäteten Flieger aus Kreta für den Flughafen Friedrichshafen beschäftigt. Erst spät erkannte er die Gefahr der sich kreuzenden Routen beider Flugzeuge.

Es war eine kaum mögliche Wahrscheinlichkeit, dass die Flugzeuge sich in dieser Höhe berühren. Meist gehen solche Annäherungen doch noch glimpflich aus. Acht Beinahezusammenstöße zählte Skyguide nach der Katastrophe von Überlingen – obwohl man versprochen hatte, derlei werde sich nie wiederholen. So unwahrscheinlich der Zufall in der Luft, so unglaublich war das Wunder, dass auf dem Boden niemand durch die herabstürzenden Wracks, die Tausenden Einzelteile, die herniederregneten, verletzt wurde. Handtellergroße Unterlagsscheiben lagen auf dem Golfplatz von Owingen. Sie allein hätten einen Menschen schon erschlagen können. Das Unglück brachte Alina, 70 weiteren Menschen und schließlich einem Fluglotsen den Tod. Von ihnen bleibt nichts als die Erinnerung. Jeder neue Jahrestag erzählt davon.