Der durch Corona verursachte Run auf Fahrräder erstaunt sogar Händler, die seit Jahrzehnten im Geschäft sind. Seit sie wieder öffnen dürfen, haben sie einen Ansturm erlebt wie nie. Wie erklären sie sich das?

Filder - Es ist Donnerstagvormittag, und in der Bike-Bar in Degerloch ist gerade wenig los. Ausnahmsweise, denn eigentlich laufen die Geschäfte prächtig im Radladen an der Gomaringer Straße. „Wir haben viel zu tun, übermäßig viel sogar“, sagt Inhaber Gerhard Schmeiser-Brand. Seit 1990 betreibt er seinen Laden, in dem er vier Mitarbeiter beschäftigt, aber einen Ansturm wie in diesem Jahr hat er noch nicht erlebt.

 

Am ersten Tag nach der coronabedingten Zwangspause sei man regelrecht überrannt worden von der Kundschaft, erzählt Schmeiser-Brand. „Fahrradläden durften ja als eine der ersten überhaupt wieder öffnen. Vielleicht wollten die Leute einfach mal wieder ein Geschäft betreten“, scherzt der Inhaber. Der plötzliche Run aufs Rad kam für die Bike-Bar völlig unerwartet, wie Gerhard Schmeiser-Brand einräumt. Im Rückblick versteht er ihn aber. Die Menschen hätten durch Homeoffice und Kurzarbeit mehr Zeit fürs Radeln. Andere würden bewusst Bus und Bahn meiden, um sich nicht mit dem Virus zu infizieren. „Es gab ja sogar einige Unternehmen, die ihre Mitarbeiter zum Radfahren aufgefordert haben“, so Schmeiser-Brand.

Kunden zunächst übers Telefon bei der Stange gehalten

Im März und April habe man zwar deutlich weniger verkauft, über das Telefon habe man die Kunden aber ein wenig bei der Stange halten können. Den durch die Zwangsschließung entstandenen Umsatzeinbruch habe man mittlerweile schon wieder reingeholt, so der Fachmann. Immerhin habe man die Werkstatt weiterhin offenhalten dürfen. „Die wurde in der Krise systemrelevant“, sagt Schmeiser-Brand. Angesichts der starken Nachfrage hat er nun plötzlich mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. „Natürlich gibt es für die Kunden jetzt längere Wartezeiten.“ Anders gehe es einfach nicht bei diesem Andrang.

Auch Lieferschwierigkeiten einiger Hersteller habe es gegeben. Denn fast alle, auch die hochpreisigen deutschen, würden ihre Rahmen in Fernost produzieren lassen. Die Krise hat auch der Radindustrie vor Augen geführt, welche Abhängigkeiten die engen weltwirtschaftlichen Verflechtungen mit sich bringen. Die Nachfrage der Kunden komme aus allen Teilen der Gesellschaft, sagt Gerhard Schmeiser-Brand, und aus allen Altersgruppen. Wird sich die Begeisterung fürs Zweirad langfristig halten? Der Routinier gibt sich vorsichtig optimistisch. Stuttgart sei noch immer eine Autostadt, der Prozess gestalte sich zäh. Und trotzdem: „Ich glaube schon, dass das Radfahren immer stärker kommt und dass ein Teil der Leute, die jetzt aufspringen, auch dabei bleiben werden.“

„Es wäre zu wünschen – für die Umwelt und fürs Geschäft“

Das glaubt auch Christoph Walz, Inhaber des Möhringer Rad- und Motorradladens Zweirad Walz. „Ich denke, dass ein paar auf den Geschmack kommen und es einen kleinen Zuwachs gibt. Es wäre zu wünschen – für die Umwelt und fürs Geschäft“, so Walz.

Im Moment können sich Christoph Walz und seine Mitarbeiter, genau wie sein Degerlocher Pendant, kaum vor Aufträgen retten. „Der Kundenandrang ist höher, das muss man ganz klar sagen“, berichtet der Ladeninhaber. Man mache doppelt so viel Umsatz wie im vergangenen Jahr, sei schon jetzt nah dran am Gesamtumsatz des Jahres 2019.

Das liege, so Walz, indes nicht nur an Corona: zusätzliche Kunden habe man durch die Schließung des Radladens Speiche in Vaihingen gewonnen. „Aber auch ohne diese Kunden haben wir noch eine Steigerung von 65 Prozent im Vergleich zum Vorjahr“, so Walz.

So etwas habe er noch nie erlebt in den 27 Jahren

Die Konsequenz auch hier: Sowohl im Verkauf als auch bei den Reparaturen habe man längere Vorlaufzeiten. Woher kommt der Boom? „Die Leute wollen einfach raus, sich bewegen, Sport machen. Die Fitnessstudios hatten ja anfangs auch geschlossen“, sagt Christoph Walz.

Jörg Roßricker, Inhaber des Filderstädter Radladens „Drahtesel“, schildert ähnliche Beobachtungen. Die Corona-Krise habe die Menschen zu einer Vielzahl an Outdoor-Aktivitäten animiert, das Rad sei eine davon. Wobei der Rad-Boom eigentlich bereits vor der Krise eingesetzt habe, sagt Roßricker. Von der Intensität des Andrangs ist der Inhaber aber noch immer erstaunt. „Ich habe den Laden seit 27 Jahren und habe so etwas noch nie erlebt“, sagt er. Das gehe auch befreundeten Händler-Kollegen so, mit denen er sich regelmäßig in WhatsApp-Gruppen austausche, sagt er.