Das Coronavirus hat das Leben der meisten Menschen kräftig umgekrempelt. Der Psychiater Jan Kalbitzer sieht daran auch die Chance für einen Neuanfang, wie er im Interview sagt.

Berlin - Nach Auffassung des Psychiaters Jan Kalbitzer ist die Corona-Zeit eine Chance für einen Neuanfang. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und hat sich auf Stressmedizin spezialisiert. Sein kürzlich erschienenes Buch „Krise als Neustart“ ist eine Anleitung dafür, wie man neue Gewohnheiten bildet. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erläutert der Psychiater, wie die Corona-Pandemie sich bereits auf unsere Gesellschaft ausgewirkt hat und was daraus zu lernen ist.

 

Mit Blick auf die Corona-Krise haben Sie neulich gesagt, dass es die Normalität aus den Zeiten vor der Corona-Krise nie mehr geben werde. Wie meinen Sie das?

Wir lernen bereits, mit einer großen Ungewissheit zu leben. Denn wir wissen nicht, wie lange dieser Zustand tatsächlich dauern wird. Es gilt keinesfalls als sicher, dass es bereits im Frühjahr nächsten Jahres einen Impfstoff gegen das Coronavirus geben wird. Der Umgang mit einer solchen Unsicherheit wird uns auch nach der Krise prägen. Und ich glaube, diese Prägung lässt sich kaum mehr rückgängig machen, ebenso wenig wie die Prägung der Nachkriegszeit für die davon betroffenen Generationen einfach zu tilgen ist.

Wie wird sich das zeigen?

Ich beobachte, dass Menschen sich im öffentlichen Raum mehr zurückhalten, sich nicht mehr so unbefangen verhalten wie zuvor im Umgang miteinander. Dabei fürchten die einen die Infektionsgefahr, die anderen vielleicht mehr die Ermahnung zur Einhaltung der Abstandsregeln - aber am Ende läuft es auf das Gleiche hinaus: Der öffentliche Raum verändert sich gerade grundsätzlich.

Haben sich die Menschen in der Corona-Zeit bereits verändert?

Auf jeden Fall. Zu meiner Überraschung haben zahlreiche meiner Patienten berichtet, dass es ihnen gerade wegen der Corona-Einschränkungen besserging. Sie fühlten sich erleichtert, weil damit auch soziale Verpflichtungen wegfielen und die Hektik und der Stress in ihrem Alltag sanken. Gerade diese Menschen werden etwas davon auch in die Zukunft retten wollen, zum Beispiel mehr im Homeoffice zu arbeiten. Oder mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Gleichzeitig wirkt sich die Corona-Pandemie bereits auf unser ganzes gesellschaftliches Leben aus. Nur ein Beispiel: Ohne Tanzclubs, Musikkonzerte oder ähnliches sind wir zu einer neuen Freizeitgestaltung gezwungen. Die Corona-Zeit hat unsere alten Gewohnheiten also massiv unterbrochen. Aber wir können neue Gewohnheiten bilden, die besser sind als die alten. Die Krise wird so zur Chance für einen Neustart.

Was wäre dafür nötig?

Es ist unabdingbar, dass wir neue Instrumente entwickeln, mit deren Hilfe wir gemeinsam neu aushandeln, wie wir in Zukunft leben wollen. Dabei müssen wir aber akzeptieren, dass der analoge und der digitale Teil unseres Lebens nicht mehr getrennt verlaufen können, sondern sich immer mehr überlagern werden. Die Corona-Warn-App ist da ein guter Anfang. Sie könnte als Beispiel dafür dienen, wie Menschen unter gemeinsamer Anstrengung eine Pandemie eindämmen. Aber wir brauchen mehr solcher Instrumente - allen voran eine soziale Plattform als „digitale Agora“, wo wir alle miteinander reden. Die Plattformen, die wir bisher haben, erfüllen diesen Zweck nicht gut genug: Zum Teil favorisieren sie extreme Meinungen. Zudem bieten sie Platz für Hassrede, die nicht immer geahndet werden kann. Ein besserer öffentlicher Raum wäre aber gerade jetzt von großer Bedeutsamkeit.

Was haben wir aus der Corona-Krise bislang gelernt?

Positiv ist, dass einige „Neustarts“ bereits passieren. Durch den Lockdown sind die Kohlenstoffdioxid-Emissionen zurückgegangen, die Luft ist an vielen Orten sauberer geworden. Dadurch konnten wir sehen, dass bestimmte Veränderungen möglich sind - und was dafür getan werden muss. Mit der verstärkten Arbeit im Homeoffice sank auch der Stromverbrauch. Hier in Berlin wurden neue Radwege geschaffen, die aller Wahrscheinlichkeit nach auch nach dem Ende der Pandemie bleiben werden. Diesen Wandel müssen wir aktiv mitgestalten, wenn wir nicht wollen, dass wir irgendwann vor eine neue Ordnung gestellt werden, die wir nicht mehr beeinflussen können.

Negativ ist, dass die Corona-Krise die soziale Kluft verschärft. Selbst die Corona-App ist nicht auf älteren Smartphone-Modellen installierbar. Menschen müssen also wohlhabend genug sein, um sich - aber eben auch die anderen - schützen zu können. Auch die Medien tendieren dazu, sich selbst zu spiegeln. Am Anfang der Corona-Pandemie wurde viel über die Infizierten berichtet, die oft Urlaubsrückkehrer oder Geschäftsreisende waren und eher zu den Bessersituierten zählten. Zur Zeit infizieren sich zum Beispiel Arbeiter aus der fleischverarbeitenden Industrie, die aus osteuropäischen Ländern stammen und hier unter schlechten Bedingungen leben. Von diesen Einzelschicksalen hören wir nicht viel. Dadurch werden sie für uns unsichtbar. Das ist ein großes Problem. Denn wenn wir nur unter Akademikern darüber sprechen, was wir alles aus der Corona-Krise gelernt haben, und denjenigen, denen es vorher schon schlechtging, nach der Krise genauso schlechtgeht, ist das kein echter Neustart für uns als Gesellschaft - sondern nur für einen kleinen Teil davon.

Ihr Vater ist während der Corona-Pandemie gestorben. Das kommt nun als weitere persönliche Krise hinzu. Wie haben Sie diese Zeit für sich bewältigt?

Ich habe zwar viele Menschen bei ihrer Trauer begleitet, aber für mich war es der erste Trauerfall, den ich so nah erlebt habe. Ich wusste natürlich, dass Gesten der Anteilnahme in so einer Situation wichtig sind. Aber wie stark diese Wirkung sein kann, dass hat mich dann doch noch mal überrascht. Eine Nachbarsfamilie hat zum Beispiel selbst gebackene Zimtschnecken vor die Tür gestellt. Das hat mich unglaublich berührt und getröstet. Ich würde sagen: sowohl durch die Corona-Krise als auch durch diesen Verlust ist mir bewusster geworden, wie wichtig zwischenmenschliche Gesten und Rituale für mich sind.