In der Pandemie ist die Zahl der Ernährungsberatungen bei der AOK sprunghaft angestiegen. Viele andere Kassen haben jedoch kein derartiges Angebot.

Schmerzen im Unterleib können alles bedeuten. Aber von dieser Krankheit hatte Heidi M. noch nie gehört: „Sie haben Divertikel“, sagte der Hausarzt, „ich verschreibe Ihnen ein Antibiotikum und empfehle vier Wochen Schonkost.“ Als der Arzt ein Fragezeichen in der Miene der Patientin deutete, meinte er: „Besorgen Sie sich Fachliteratur dazu. Belesen Sie sich zum Thema.“ Tatsächlich kaufte Heidi M. einige Ernährungsratgeber, aber so richtig klug wurde sie daraus nicht. Also fragte sie bei Gastrologen nach einer Beratung. Die Antwort: „So etwas machen wir nicht.“ Offensichtlich bringe das weniger ein als die Apparatemedizin, mutmaßt Heidi M. Auch die Nachfrage bei ihrer Krankenkasse half nicht weiter: „Sollte ihr Arzt eine Ernährungsberatung verordnen, bekommen sie einen Zuschuss von 40 Euro.“ Nicht viel, denn die Beratung hätte in ihrem Fall rund 300 Euro gekostet, pro Termin. „Ich aber hätte fünf Termine gebraucht“, erzählt Heidi M.

 

Keine Hilfe bei Erkrankungen

Was also tun? Diese Frage stellen sich immer mehr. Nicht nur Patienten mit Darmerkrankungen, auch immer mehr Menschen mit Lebensmittelunverträglichkeiten, wie Laktose-, Gluten-, oder Fruktoseintoleranz. Von den Diabetikern und den immer mehr werdenden Menschen mit starkem Übergewicht nicht zu reden. Fast alle dürften es schwer haben, sich professionell in Sachen Ernährung beraten zu lassen.

Ernährungsberater, ganz gleich welcher Qualifikation, sind keine Leistungserbringer, die mit einer Krankenkasse abrechnen können. Es kommt im Leistungskatalog aller Kassen nicht vor, bestätigt ein Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW). Da Ernährungsberatung, wenn sie nicht von einem Arzt geleistet wird, keine Kassenleistung ist, bleibt den Patienten nur eine Wahl. Man müsse sich eine Kasse suchen, so der KV-Sprecher, in der solche Angebote zur Satzungsleistung gehören.

Heidi M. hat sich daraufhin umgehört. Allein die AOK, so sagt sie, bietet das an. „In der Tat ist wohl die AOK die einzige Krankenkasse, die eine solche Beratung anbietet“, sagt Sebastian Scheible, Kommunikationsleiter der AOK Stuttgart-Böblingen. Die AOK habe schon sehr früh den Bedarf solcher Beratungen erkannt. Und seit dem Start 2016 mit 1257 Beratungen sei die Zahl kontinuierlich gewachsen. Von 1542 Beratungen im Jahr 2019 auf 1950 im Folgejahr und 2241 Beratungen im Jahr 2021.

Alleinstellungsmerkmal der AOK

„Im laufenden Jahr haben wir bis Mai schon 1082 Beratungen - teilweise telefonisch, teilweise online, teilweise vor Ort“, so Scheible. Der große Zuwachs an Beratungen sei auch Corona geschuldet. „Bei unseren internen Beratungen können wir theoretisch Diagnosen auswerten. Aber bei dieser Auswertung zeichnet sich kein einheitliches Bild ab. Da gibt es alles, von Übergewicht bis Untergewicht, Osteoporose oder Adipositas bei Kindern ohne, dass eine Häufung bei einer Diagnose zu sehen ist.“

Dies bestätigt Andrea Scholp, eine von fünf Ernährungswissenschaftlerinnen der AOK: „Insgesamt hat das Thema Übergewicht/Bariatrie in den letzten Jahren ziemlich zugenommen und durch Corona noch einen zusätzlichen Schub bekommen, was man an den Beratungszahlen auch ablesen kann. Uns geht die Arbeit nicht aus.“ Und doch ist die Ernährungsberatung bei den Krankenkassen nicht verbreitet. Über die Gründe kann auch der Sprecher der KVBW nur spekulieren: „Es ist schwer zu sagen. Mag sein, dass es der große Aufwand und die Kosten sind, die hemmen.“ Ein weiteres Problem sei sicher auch, die Frage nach der Qualifizierung. Denn der Begriff Ernährungsberatung sei nicht geschützt.

Wie wichtig das Thema ist, hat auch Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft erkannt. Der Grüne stellt sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion am 25. August, im Theaterhaus, unter dem Titel „Süß war gestern – was braucht es für eine gesunde Ernährung“ auch den Fragen einer besseren Prävention und Beratung. Einen möglichen Weg für die Zukunft zeigt

Andrea Scholp, die AOK-Oecotrophologin, auf: „Es gibt ja bereits Tendenzen, dass die Bedeutung der Ernährungswissenschaftler bei den Medizinern wächst“, sagt sie, „aber ich würde mir schon einen politischen Diskurs wünschen, wo es um die Zulassung von Ernährungsberatung als Heilmittel geht und um die Anerkennung der zertifizierten Berater als Therapeuten.“ Im Fall von Heidi M. wäre das aus Sicht von Andrea Scholp sehr hilfreich gewesen: „In zwei, drei Gesprächen wäre so ein Diverticulum sehr gut zu unterstützen.“