Seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima am 11. März 2011 sind knapp 300 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt – viel mehr als im rechnerischen Durchschnitt. Das Stigma in Japan ist so stark, dass erst jetzt sechs Betroffene eine Sammelklage anstrengen.

Fukushima - Kaltes Gel am Hals, gleitende Bewegungen von links nach rechts, von oben nach unten, bisweilen ein unangenehmer Druck – für rund 380 000 Kinder und Jugendliche bis zum Alter von 18 Jahren wurden Schilddrüsenuntersuchungen seit dem Atomunfall in Fukushima zur Routine. Bei den meisten war alles in Ordnung. Doch knapp 300 von ihnen bekamen die Schockdiagnose Krebs.

 

Häufig wüssten aber nur das Kind und die Mutter Bescheid, sagt der Opfer-Anwalt Hiroyuki Kawai bei einer Pressekonferenz in Tokio Anfang März. Nicht einmal der Vater oder andere Geschwister würden informiert. Zu groß sei die Angst, dass das Kind und die Familie von der Gemeinschaft ausgegrenzt werden könnten.

Am 11. März jähren sich das Erdbeben, der Tsunami und der GAU von Fukushima zum elften Mal. Rund 34 000 der einst 165 000 Evakuierten können noch heute wegen zu hoher Strahlenwerte nicht in ihre Heimat zurück. Über die Jahre sind Zehntausende Kläger vor Gericht gezogen, um Kompensation für wirtschaftlichen Schaden zu erstreiten. Derzeit laufen laut Kawai rund 30 Verfahren. Doch erst im Januar haben sechs Betroffene zum ersten Mal eine Sammelklage wegen gesundheitlicher Schäden gegen die Betreiber des Kraftwerks eingereicht.

Die jüngsten Kläger sind sechs Jahre alt

Die Klägerinnen und Kläger, damals zwischen 6 und 16 Jahre alt, führen ihren Schilddrüsenkrebs auf den Fallout nach den Kernschmelzen in drei Reaktoren zurück, vor allem radioaktives Jod-131.

Dieser Schritt sei nicht einfach gewesen, sagt der Anwalt Kenichi Ido, der mit Kawai die Opfer vertritt: „Wenn die Kinder sagen, dass sie infolge radioaktiver Strahlung erkrankt sind, müssen sie fürchten, als Verräter gebrandmarkt zu werden, die schädliche Gerüchte verbreiten und dadurch den Wiederaufbau Fukushimas behindern.“ Denn sowohl die Präfektur als auch die nationale Regierung in Tokio hätten das Narrativ verbreitet, dass es kein gesundheitliches Risiko durch die Katastrophe gebe – und dies sei durch einheimische Medien noch verstärkt worden. Ein Umstand, den die Anwälte auf die Macht des „nuklearen Dorfes“ zurückführen, ein informelles Netzwerk von Kraftwerksbetreibern, Aufsichtsbehörden sowie atomkraftfreundlichen Wissenschaftlern und Regierungsbeamten.

Das Ziel ist die Umkehrung der Beweislast

„Wie sie es schaffen, die Realität so zu reinterpretieren, dass es ihnen in den Kram passt, ist mir unbegreiflich“, sagt Ruiko Muto bei einer Online-Konferenz der Nichtregierungsorganisationen Peace Boat und Friends of Earth über die Verantwortlichen beim Staat und der Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco). Muto, die in Fukushima lebt und Opferorganisationen vorsteht, zählt zu den bekanntesten Gesichtern der Anti-Atomkraft-Bewegung in Japan. Aufgeschreckt durch Tschernobyl 1986 begann sie früh Kampagnen gegen Atomkraft zu organisieren. Es könne doch nicht sein, dass die Betroffenen den Beweis erbringen müssen, dass ihre Erkrankung von dem GAU ausgelöst wurde, sagt Muto am Sonntag vor dem Jahrestag. Tatsächlich setzen die Opferanwälte nun auf die Strategie, die Beweislast umzukehren, sodass die AKW-Betreiber beweisen müssen, dass der Krebs nicht im Zusammenhang mit der Katastrophe steht.

Die geforderte Entschädigung beträgt 616 Million Yen, umgerechnet 4,8 Millionen Euro. Die Betroffenen wollen außerdem, dass der Staat ein ähnliches System wie bei den Opfern der Atombomben von Nagasaki und Hiroshima einführt. Diese bekommen lebenslange finanzielle Unterstützung beim Lebensunterhalt und kostenlose medizinische Versorgung.

220 der erkrankten Kinder mussten operiert werden

220 der erkrankten Kinder mussten sich laut den Anwälten bereits Operationen unterziehen. Bei ihren Mandanten sei bei zwei Personen ein Teil der Schilddrüse entfernt worden, bei vier das komplette Organ. Eine Person, bei der auch Metastasen in der Lunge festgestellt wurden, wurde viermal operiert. Alle seien für den Rest des Lebens auf Medikamente angewiesen. Wegen der Erkrankung hätten einige bereits zugesagte Studienplätze ablehnen und Jobs aufgeben müssen, sagt Ido.

Den Beteiligten gehe es jedoch nicht allein um Entschädigung für sich selbst, sagt Ido. Sie wollten anderen Opfern Mut machen, ebenfalls ihre Stimme zu erheben. 266 Fälle kamen durch die Reihenuntersuchung zutage, 27 weitere Fälle außerhalb dieser Screenings. Doch die wenigsten wüssten voneinander, sagen die Anwälte. „Sie trauen sich nicht, etwas zu sagen, sie pflegen keine Beziehungen untereinander“, erklärt Ido. Es gebe kein etabliertes System des Austauschs, keine Patientenlisten, keine Hilfsorganisationen oder Vereinigungen speziell für Fukushima-Opfer mit gesundheitlichen Problemen. Die Sammelklage sei nur möglich geworden, weil sich zufällig mehrere Betroffene bei Kawai gemeldet hätten.

Kinder erkranken selten an Schilddrüsenkrebs

Schilddrüsenkrebs sei eine seltene Krankheit – ein bis zwei Fälle pro Jahr bei einer Million Kindern sei die statistische Wahrscheinlichkeit, sagt der Anwalt. Andere Quellen nennen bis zu 5 Fälle. Aber auch das ist viel weniger als die in Japan nun bekannte Zahl. Bereits nach Tschernobyl erkrankten Kinder an dieser Krebsart – in Weißrussland, der Ukraine und Russland geht man von mindestens 1000 Fällen aus. Andere Quellen sprechen von mehreren tausend Fällen.

Kawai glaubt, dass die Zuständigen spätestens zwei Jahre nach Beginn der Untersuchungen, als immer mehr Verdachtsfälle auftauchten, die Screenings bereuten und fortan dazu ermunterten, nicht so genau hinzuschauen. Denn sonst hätten die Verantwortlichen einen Kausalzusammenhang zwischen gesundheitlichen Problemen und der Atomkatastrophe einräumen müssen. Das würde die Politik der Regierung infrage stellen: Kernkraft hat einen Anteil von 22 bis 24 Prozent am Energiemix Japans. Derzeit sind neun Reaktoren am Netz, weitere sollen wieder hochgefahren werden.