Exklusiv In Ulm sind vier Männer angeklagt. Sie sollen einen 33-jährigen ehemaligen Kumpanen so traktiert haben, dass er sich vor einen Zug geworfen hat. Im Gerichtssaal wachsen jedoch die Zweifel an diesem Tatablauf.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm - Die Online-Kollegen sind wieder am schnellsten gewesen. „Sind das Deutschlands fieseste Folterknechte?“ fragte „Bild“ am 16. Juli um 14.02 Uhr. Da war gerade die Anklage in einem spektakulären Prozess vor dem Ulmer Landgericht verlesen worden. Die „Augsburger Allgemeine“ legte ganz ohne Fragezeichen nach. „Sie trieben den Kumpel und Familienvater in den Tod“, lautete die Titelzeile. „Das Blitzgewitter lässt sie kalt“, notierte der Prozessbeobachter.

 

Medial sind damit Patrik H., 27, Andre D., 23, Manual G., 25, und Wolfgang H., 24, bereits verurteilt worden. Die Anklageschrift gegen die Männer hört sich tatsächlich monströs an. Sie sollen einen 33-jährigen Familienvater aus Schelklingen (Alb-Donau-Kreis) am späten Nachmittag des 7. September 2013 vier Stunden lang in einem Keller gefoltert und gedroht haben, dessen minderjährige Kinder zu töten. Ziel sei es gewesen, das Opfer zu Einbrüchen zu nötigen. Verletzt, verängstigt und aus dem dem Gefühl der Ausweglosigkeit habe sich der Gefolterte tags darauf um 14.33 Uhr am Bahnhof Blaustein vor den Regionalexpress RE 22341 geworfen.

Die Anklage stützt sich wesentlich auf einen Abschiedsbrief, den der 33-Jährige hinterlassen hat. Außerdem auf dessen Berichte, die er abends nach der Folter bei einer Kneipentour gegenüber Bekannten abgegeben hat. Er benannte dabei detailliert seine Peiniger und die Qualen. Urin habe er trinken müssen, dazu zwei Liter in Wasser aufgelösten Blumendünger. Eine Schachtel Zigaretten habe er essen müssen. Ihm sei mit einem Messer ins Ohr geschnitten worden. Einer der Angeklagten habe ihm mit einem Bunsenbrenner die Hände verbrannt.

Verbrennungen hat der Rechtsmediziner nicht bemerkt

Von einem Menschen, der von einem Zug überrollt wurde, bleibt wenig erhalten. So ist es auch hier gewesen. Ulf Deml, Ulmer Facharzt für Rechtsmedizin und Prozessgutachter, hat keinen Mageninhalt mehr untersuchen können. Die Hände des 33-Jährigen konnte er aber eingehend inspizieren. „Thermische Verletzungen sind nicht festgestellt worden“, trug Deml dem Gericht vor. Zumindest die Erzählung mit dem Bunsenbrenner scheidet damit aus. Und die zwangsweise verspeisten Zigaretten? Die Wirkung des Nikotins könne im Extremfall tödlich wirken, sagt der Gutachter. Ganz unwahrscheinlich sei es, dass es nicht zu Folgen wie Schwindel, Erbrechen oder Muskelzittern komme.

Das Überwachungsvideo eines Schelklinger Supermarktes zeigt davon nichts. Es ist 20.55 Uhr. Zu sehen ist der 33-Jährige, der – es muss kurz nach der behaupteten Folterorgie sein – zielstrebig zum Alkoholregal geht und sich eine Flasche Jägermeister aussucht. Er geht damit zur Kasse. Der 22-jährige Kassierer kennt ihn, man spricht kurz miteinander. Vor Gericht erzählt er: „Ich habe gesehen, dass er an einer Gesichtshälfte eine Schwellung hatte. Er hat gesagt, er wurde gerade von fünf Türken verschlagen.“

Die Angeklagten sind keine Türken. Einer von ihnen ist der Sohn eines früheren leitenden Kriminalbeamten aus dem Alb-Donau-Kreis. Zwei der Angeklagten sind polizeibekannt. Drogenvergehen, Nötigung, Diebstahl oder Körperverletzung gehören zu deren Vergehen. Passt das zum Foltervorwurf? Nein, hatte das Landgericht Ulm zunächst befunden. Ohne umfassende Leichenschau, nur aufgrund eines anderthalbseitigen Abschiedsbriefs und ohne unmittelbare Tatzeugen sei dieser Prozess aussichtslos. Die Anklage lautet auf Körperverletzung mit Todesfolge. Dafür reicht es nicht, die Folter zu belegen. Es muss auch bewiesen werden, dass sie ursächlich für die Selbsttötung gewesen ist. Die Staatsanwaltschaft Ulm hatte den Prozess mithilfe einer erfolgreichen Beschwerde beim Oberlandesgericht Stuttgart schließlich erzwungen. Das brachte das Ulmer Gericht in Terminschwierigkeiten. Nun verhandelt eine hilfsweise gebildete Strafkammer unter dem Vorsitz von Wolfgang Tresenreiter den Fall.

Die Ex-Partnerin berichtet vom Drogenkonsum des Opfers

Tresenreiter hört konzentriert zu und fragt präzise. Im Zeugenstand sitzt die Lebensgefährtin des 33-Jährigen, Mutter zweier Kinder. Sie erzählt, wie sie sich „zwei oder drei Wochen“ vor der Selbsttötung ihres langjährigen Freundes von ihm trennte, wie er aus der gemeinsamen Wohnung auszog. Wusste sie oder hat sie geahnt, dass der Freund seit Juni 2013 mit einer 22 Jahre alten Frau liiert war? „Wenn er zu spät nach Hause gekommen ist, hat er regelmäßig einen Platten am Fahrrad gehabt“, ironisiert die Zeugin lediglich.

Nach Überzeugung der Ulmer Strafverteidigerin Christina Seng-Roth hat das mutmaßliche Folteropfer ein „Doppelleben“ geführt, das zunehmend schwieriger zu verbergen war. Sie fragt, wie Richter Tresenreiter, immer wieder beharrlich nach. Einmal berichtet die letzte Arbeitgeberin des Toten, Leiterin einer Personalvermittlungsagentur in Blaubeuren, dass ihr Angestellter sich 2013 immer häufiger kurzfristig von der Arbeit abgemeldet habe. Seine Freundin habe Verdacht auf Brustkrebs, habe er einmal am Telefon geschildert. Ein andermal behauptete er, die Lebensgefährtin habe sich „vor einen Zug geworfen“, ein Notarzt habe sie retten können. Nichts davon stimmte. Seltsam, bemerkt die Anwältin Seng-Roth, dass bei solchen Geschichten „immer jemand in Todesgefahr“ gewesen sei.

Ob es richtig sei, fragt Richter Tresenreiter die Zeugin, dass ihr Freund vor vielen Jahren schon einmal versucht habe, sich die Pulsadern aufzuschneiden? Er habe sich „ein bisschen an den Armen rumgeritzt“, kommt zur Antwort. Eine Therapie in einer Bad Schussenrieder Klinik habe „ja nur ein paar Stunden“ gedauert.

Die Zeugin weiß nicht, wann die Freunde zu Feinden wurden

Ihr Lebenspartner und die Angeklagten hätten sich seit zwei bis drei Jahren gekannt, schildert die Frau. Ab Anfang 2013 sei ihr Freund „immer aggressiver“ geworden, der Drogenkonsum sei gestiegen. Im Keller der Familie fand die Polizei später selbst gezogene Cannabispflanzen. „Zum Schluss hat er fast alles genommen“, sagt sie: Marihuana und Speed zum Beispiel.

Sein Gehalt betrug etwa 1100 Euro netto. Woher kam das Geld für die Drogen? Wohl aus Einbrüchen, schildert die Zeugin. Zusammen mit zwei der Angeklagten habe ihr Freund einmal versucht, in die Feuerwache Schelklingen einzubrechen, dann wieder in ein Geschäftsstellenbüro der Bergwacht. „Die Funkgeräte lagen bei uns in der Küche.“ Der 33-Jährige war selbst ehrenamtlicher Feuerwehrmann gewesen. Im Dezember 2012 wurde er nach einem nächtlichen Streit mit Kameraden bei der Weihnachtsfeier hinausgeworfen.

Wochen vor dem Freitod schlug die Kumpanei zwischen ihrem Freund und den Angeklagten in Feindschaft um. Warum? Das kann die Zeugin nicht sagen. Schwer zu glauben, dass es um etwas anderes als um Geld ging. War das der Weg in ein Folterdrama? Oder war der Streit unter den Männern nur Teil eines Lebens, das dem 33-Jährigen völlig entglitt?

Wann sie ihren Freund denn kennen gelernt habe, fragt der Richter die Zeugin einmal. Sie kann sich ganz genau erinnern: am 7. September 2003. Exakt zehn Jahre später kündigte der 33-Jährige seinen Abschied aus dem Leben an.