Die Reifen sind zurzeit das Sicherheitsrisiko Nummer 1 in der Formel 1. Nach dem Grand Prix in Silverstone können die Verantwortlichen von Glück sprechen, dass sich in England kein schwerer Unfall ereignet hat.

Silverstone - Für gewöhnlich twittert Fernando Alonso nach Rennen wie diesem Samurai-Weisheiten. Diesmal belässt der Spanier es bei ein paar Daten: 288 km/h, 3,6 g Fliehkräfte, Kurve voraus. Und er stellt ein Bild aus der Bordkamera seines Ferrari dazu, das die ganze Dramatik des Großen Preises von Großbritannien und der Formel 1 überhaupt verdeutlicht: Mit einer hektischen Lenkbewegung kann der Vettel-Jäger gerade noch den schweren Gummistücken des unmittelbar vor ihm explodierten Hinterreifens am McLaren von Sergio Perez ausweichen, die wie ein Meteoritenschwarm in seine Richtung fliegen. „Ich hatte Angst und ich hatte Glück“, sagt er nach dem Reifendrama von Silverstone. Ein Treffer bei ihm oder einem anderen während der fünf Pneu-Explosionen – und es hätte wer weiß was passieren können. „Es war wie Russisches Roulette“, sagt der zweitplatzierte Mark Webber. Die Formel 1 hatte mehr Glück als Verstand.

 

Die ganze Dramatik dämmert vielen erst nach den 52 chaotischen Runden, die Analyse einzelner Reifensätze hatte ergeben, dass der Sieger Nico Rosberg, der wegen eines Getriebeschadens ausgeschiedene Sebastian Vettel und auch Alonso kurz vor einem ähnlichen Defekt standen. Der Rennleiter Charlie Whiting gab später zu, dass der Grand Prix vor dem Abbruch gestanden hat: „Mir ging mehrfach durch den Kopf, die rote Flagge zu zeigen.“

Es wäre ein Skandal gewesen. Oder war es der Skandal, unter den ungeklärten Umständen weiterzufahren? Stattdessen wurde nur die Piste gereinigt und den Fahrern gesagt, sie mögen die Randsteine meiden, auf denen sich die Pneus offenbar die fatalen Schlitze in den Reifenschultern geholt hatten. Ein BBC-Team filmte in der Hochgeschwindigkeitskurve später vier daumenbreite Kanten in der Streckenbegrenzung, scharfkantig dazu. Wieso hatte das bei der Inspektion niemand gesehen?

Die erste Krisensitzung berief Jean Todt, der Präsident des Automobilweltverbandes Fia, noch im Fahrerlager ein. Dabei waren Whiting und Paul Hembery, Motorsportdirektor des Alleinausrüsters Pirelli. Morgen soll ein Notfallmeeting der technischen Arbeitsgruppe der Fia folgen, denn schon am Freitag wird beim Großen Preis von Deutschland wieder gefahren. Es geht bei der Entscheidung nicht nur um Randsteine, es geht um Leben und Tod, um Millionen, um das Ansehen der Formel 1.

Der Mercedes-Pilot Lewis Hamilton hatte als erstes Opfer im Reifendrama seinem Schrecken heftig Luft gemacht: „Diese verdammten Reifen, dafür will ich mein Leben nicht riskieren.“ Er geißelt die Funktionäre: „Es ist Zeitverschwendung, mit ihnen zu reden. Sie haben gesehen, was passiert ist. Wenn sie jetzt nicht handeln, sagt das alles.“ Sogar ein Streik auf dem Nürburgring wird von den Fahrern nun erwogen. „Darüber werden wir sicher diskutieren. Für unsere Sicherheit könnten wir das tun“, sagt der Ferrari-Pilot Felipe Massa.

Pirelli trifft das Materialproblem, aber nicht unbedingt die Hauptschuld an der Misere. Die Italiener sollten bewusst weniger haltbare Pneus produzieren, um durch mehr Boxenstopps zusätzliche Spannung zu erzeugen. Nach den Klagen von Mercedes und Red Bull zu Saisonbeginn, wurden neue Konstruktionen entwickelt. Doch weil solche Änderungen innerhalb eines Rennjahres die Zustimmung aller elf Teams brauchen, mussten die stabileren Reifen im Lager bleiben. Denn Lotus, Ferrari und Force India witterten Vorteile für die unliebsame Konkurrenz und legten ihr Veto ein. Plötzlich aber wollen die Hardliner einlenken. „Damals ging es um Wettbewerbsvorteile, jetzt um die Sicherheit“, sagt der Lotus-Teamchef Eric Boullier. „Wir sollten nicht mit Fingern auf Pirelli zeigen“, sagt der Mercedes-Motorsportdirektor Toto Wolff, „vielleicht müssen wir uns alle fremdschämen. Denn das, was passiert ist, hat der Formel 1 geschadet.“ Aber wie schnell lässt sich die Problematik lösen, mit der Rückkehr der Vorjahresreifen?

Der Formel-1-Chef Bernie Ecclestone will jedenfalls nicht untätig bleiben. Pirelli sollen zweimal drei Testtage zur Verfügung stehen. Dafür soll auch die Nutzung aktueller Autos erlaubt sein. Nicht wie in der Reifentestaffäre mit Mercedes. „Sie können machen, was sie wollen“, sagt Ecclestone.

Die massiven Reifenschäden in könnten mit einem neuen Klebstoff zu tun haben, den der um sein Image bangende Reifenhersteller einsetzt, damit sich die Lauffläche nicht zu schnell ablöst. Statt einzelner Reifenbrocken lösen sich im Extremfall aber ganze Streifen, und die Stahlgürtel im Pneu werden dann zu gefährlichen Geschossen – das erinnert an die fliegende Feder, die Massa 2009 in Budapest traf. Der Brasilianer sagt: „Es geht nicht, dass wir mit dem Wissen fahren, dass wir nicht sicher sind.“ Die Formel 1 steht vor dem größten Reifenproblem seit 2005, als in Indianapolis alle Michelin-Teams zurückzogen, weil es in der schnellsten Kurve immer wieder Reifenschäden gegeben hatte.