Die Medizinerin Claudia Scholl analysiert am Deutschen Krebsforschungszentrum das Erbgut von Tumorzellen, um eine Schwachstelle zu finden, die sich therapeutisch nutzen lässt. Es ist eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen – Frust muss man ertragen können.

Die Chemotherapie ist eine schwere Keule. Der Körper wird vergiftet, aber das Gift ist so gewählt, dass es den Tumorzellen mehr schadet als den gesunden. Das Gift greift in biochemische Vorgänge ein, die im Tumor eine größere Rolle spielen als sonst im Körper. Ein Beispiel ist Palbociclib, ein experimentelles Medikament, das der Pharmakonzern Pfizer für Brustkrebs auf den Markt bringen möchte. Es blockiert unter anderem das Gen CDK6, was zur Folge haben soll, dass sich die Tumorzellen nicht mehr wild vermehren können. Gesunden Zellen müsste das weniger anhaben, weil sie nicht so wuchern wie Krebs. Wenn man weiß, warum die Tumore so schnell wachsen, hat man auch einen Ansatzpunkt für eine Therapie.

 

Claudia Scholl sucht solche Schwachstellen im Erbgut der Tumorzellen. Im Vergleich zu den gesunden Zellen eines Patienten sind im Tumor immer einige Gene mutiert. Bei den Zellen, die über Jahre hinweg geschädigt worden sind – etwa Hautzellen durch UV-Strahlung oder Lungenzellen durch Zigarettenrauch –, sind es sogar einige Hundert Gene. Zuletzt hat Claudia Scholl eine Form der Leukämie untersucht, bei der die Patienten eine schlechte Prognose haben. Die herkömmlichen Chemotherapien wirken bei ihnen oft nicht – ein Forschungsgebiet also, in dem eine gute Idee helfen könnte. Mit ihrem Kollegen Stefan Fröhling hat Claudia Scholl im Labor festgestellt, dass auch diese Zellen am empfindlichsten reagieren, wenn ihr CDK6-Gen blockiert wird. Die Studie ist im Fachjournal „Blood“ erschienen. Nun steht eine klinische Studie an, in der geprüft werden soll, ob das Mittel Palbociclib Patienten mit dieser Form der Leukämie hilft. „Es ist ein Traum, wenn Entdeckungen im Labor tatsächlich in der Klinik angewendet werden“, sagt die Medizinerin.

Mit Stefan Fröhling ist Claudia Scholl nicht nur beruflich, sondern auch privat zusammen – und seit einigen Wochen haben sie ein gemeinsames Büro. Sie wird Professorin am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, wo er schon arbeitet. Die Zeit der Unsicherheit, die in der Wissenschaft „Qualifizierungsphase“ genannt wird, hat sie hinter sich. Viele Sorgen habe sie sich in den vergangenen Jahren aber nicht gemacht, sagt sie. Zwar hat sie wie alle Nachwuchsforscher mit Zeitverträgen vorliebnehmen müssen, aber sie habe sich auf die Arbeit konzentriert. „Mir macht die Arbeit Spaß, und ich habe immer gedacht, es wird sich schon etwas ergeben.“ Der Gedanke, dass sie auch als Ärztin arbeiten könne, mag ihr etwas Sicherheit gegeben haben. Allerdings habe sie schon vor einigen Jahren gesehen, wie schwer es ist, gleichzeitig Patienten zu behandeln und zu forschen – und sich für das Labor entschieden.

„Mit den vielen Daten muss man umgehen können“

In Heidelberg will Claudia Scholl nun mit ihrem Team ein Programm aufbauen, in dem sie systematisch die Funktionen der Gene untersucht, die für einen Tumor wichtig sind. Ein Ansatzpunkt sind die mutierten Gene im Tumor. Das Erbgut von kranken und gesunden Zellen eines Patienten zu vergleichen ist heute Routine. Spezialisierte Labors übernehmen den Job. Noch vor 15 Jahren, als das erste menschliche Genom entziffert wurde, waren Hunderte Forscher mehrere Jahre damit beschäftigt. Der rasante technische Fortschritt hat aber eine neue Herausforderung mit sich gebracht: Nun werden mit geringem Aufwand riesige Mengen genetischer Informationen gesammelt. „Mit den vielen Daten muss man erst einmal umgehen können“, sagt Claudia Scholl. Sie arbeitet deshalb nicht nur mit Medizinern, sondern auch mit Statistikern zusammen.

In dem Programm, das Claudia Scholl aufbauen möchte, werden mutierte Gene am laufenden Band entdeckt. In vielen Fällen kennt man deren Funktion nicht, und in vielen Fällen hat die genetische Veränderung auch gar keine Bedeutung. Auf welche Kandidaten konzentriert man sich? Eine Möglichkeit sei zu prüfen, ob dieselbe Mutation auch bei anderen Krebskranken auftrete, sagt die Medizinerin. Das erhöhe die Chance, dass dieses Gen für das Tumorwachstum wichtig ist.

Wenn man Pech hat, stellt sich nach einigen Wochen heraus, dass das Gen für therapeutische Zwecke nichts taugt. „So ist das eben in der Forschung“, sagt Claudia Scholl. Mit dem Frust müsse man umgehen können. Als sie nach ihrer Promotion in die USA ging, hat sie im ersten Jahr kein verwertbares Ergebnis erhalten. Aber man hat zum Glück nicht immer Pech, und manche Hypothese, die man sich mit guten Gründen zurechtgelegt hat, bringt einen tatsächlich weiter. Dann komme es darauf an, seinen Fähigkeiten im Labor zu vertrauen und voranzuschreiten, sagt Claudia Scholl. „Wenn man die Versuche wieder und wieder gemacht hat und immer dasselbe Ergebnis sieht, dann muss man an sich glauben.“

„Teamarbeit ist ein Muss, aber da wächst man hinein“

Heute arbeiten zehn Mitarbeiter im Labor von Claudia Scholl und ihrem Partner. Sie muss nun mit aufpassen, dass die Doktoranden nicht zu viel Zeit verlieren, wenn sie auf einer falschen Spur sind. Das geht nur, wenn man im Gespräch bleibt. Kommunikationsfähigkeit gehöre daher neben den Labortechniken zu den zentralen Fähigkeiten, sagt Claudia Scholl. Aber dem könne sich ein junger Doktorand auch nicht entziehen: „Teamarbeit ist ein Muss, aber da wächst man hinein.“ Vor allem sei es nun ihre Aufgabe, sich die Projekte zu überlegen, sagt sie: „Was könnte interessant sein?“ Da kommt es auch auf die Erfahrung an und darauf, die Fachliteratur zu kennen. Den richtigen Riecher zu haben schade nicht, sagt Claudia Scholl.

Am Ende der Mühe steht der Fachartikel und der Wunsch, ihn in einem möglichst renommierten Journal unterzubringen. „In ,Nature‘, ,Cell‘ oder ,Science‘ zu publizieren ist schon sehr gut, aber ziemlich schwierig“, sagt sie. Vor einem Jahr hat der Medizin-Nobelpreisträger Randy Schekman – die neuen Preisträger werden übrigens an diesem Montag bekanntgegeben – verkündet, dass er bei diesen Zeitschriften keine Artikel mehr einreichen werde: Dort gehe es nicht immer um die beste, sondern oft bloß um die auffallendste Forschung. Claudia Scholl kann die Kritik nachvollziehen: Manche Arbeiten lägen so im Trend, dass sie weniger kritisch begutachtet würden. Aber hochrangige Publikationen sind nun einmal die Währung in der Wissenschaft, und Randy Schekman ist als Nobelpreisträger darauf nicht mehr angewiesen.

Neben der Liste mit den Publikationen zählt für Claudia Scholl aber auch die Liste der Labors, in denen man gearbeitet hat. Bei Bewerbern achte sie durchaus darauf, sagt sie. „Wenn der Kandidat in einem guten Labor war, kann ich davon ausgehen, dass er dort viel gelernt hat.“ Auch wenn es um ihre Karriere geht, hebt sie ihre Chefs hervor. Zum Beispiel Hartmut Döhner, den sie schon aus der Zeit ihrer Ausbildung zur  medizinisch-technischen Assistentin kannte und an dessen Klinik in Ulm sie forschen wollte, weil er dort ein Leukämie-Programm aufgebaut hat, das zu ihren Zielen passte: Grundlagenforschung und klinische Praxis zu verbinden.

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Mit diesem Beitrag endet die StZ-Serie, in der wir den Arbeitsalltag junger Forscherinnen aus Baden-Württemberg vorstellen. Alle Beiträge der Serie finden Sie hier.

Die Medizinerin Claudia Scholl im Kurzporträt

Position
demnächst: Professorin für Angewandte Funktionelle Genomik am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Heidelberg

Alter
43 Jahre

Ausbildung
Medizinisch-technische Assistentin am Universitätsklinikum Heidelberg, anschließend drei Jahre Berufserfahrung

Studium
Medizin an den Universitäten Heidelberg und Ulm. Ärztin für Innere Medizin (Hämatologie, Onkologie, Rheumatologie und Infektionskrankheiten) am Universitätsklinikum Ulm. Promotion im Jahr 2004 mit der Höchstnote „summa cum laude“.

Qualifikation
Postdoktorandin am Brigham and Women’s Hospital und der Harvard Medical School in Boston von 2005 bis 2009. Seit 2010 Leiterin einer unabhängigen Forschergruppe, gefördert durch das Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, erst an der Uni Ulm, seit September 2014 in Heidelberg.

Auszeichnung
Bristol-Myers-Squibb-Preis für Nachwuchsforscher der US-Krebsforschungsgesellschaft, Innovationspreis der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie.

Ein typischer Arbeitstag von Claudia Scholl

7.30 Uhr
Der Arbeitstag beginnt mit einigen Stunden am Computer: erst E-Mails beantworten, dann die neue Fachliteratur sichten, schließlich Manuskripte und andere Dokumente durchsehen – undOrganisatorisches.

Tagsüber
Gemeinsam mit ihrem Lebenspartner und Laborkollegen Stefan Fröhling spricht Claudia Scholl mit jedem der zehn Mitarbeiter mindestens einmal pro Woche über die neuen Ergebnisse. Außerdem gelegentliche Besprechungen mit Kooperationspartnern. Demnächst kommen zwei Stunden Lehre in der Woche hinzu.

16 Uhr
Freitags Treffen aller Labormitarbeiter: im Wechsel stellt ein Mitarbeiter sein Projekt oder einen Fachartikel vor. Am Montag um 17 Uhr Vortrags- und Diskussionsrunde mit den Kollegen aus den anderen Labors der Abteilung.

18.30 Uhr
Üblicherweise geht es um diese Zeit nach Hause, aber auch nach dem Abendessen sitzt Claudia Scholl oft am Schreibtisch.