Uta Schlickum untersucht am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung elektronische Bauteile aus Plastik. In der Forschung komme es nicht auf die Menge der Resultate an, sagt die Mutter von zwei Söhnen, sondern auf die Qualität der Arbeit.

Stuttgart - Jan ist erst drei Monate alt und kann noch nicht krabbeln. Er liegt auf einer Decke auf dem Schreibtisch seiner Mutter. Mit ihrer linken Hand schüttelt sie ein Stofftier, während sie sich mit der rechten Hand durch einen Fachartikel klickt. Wenn der Fotograf Bilder von ihr und ihrem Sohn macht, darf nichts auf dem Monitor zu sehen sein, was sie in Schwierigkeiten bringen würde. Fachjournale drohen damit, Beiträge abzulehnen, wenn die Ergebnisse schon andernorts zu sehen waren. Vor einigen Tagen ist ein Artikel von Uta Schlickum zur Veröffentlichung angenommen worden, bei einem weiteren wartet sie noch auf das Urteil der Gutachter; drei weitere Artikel sind derzeit in Arbeit.

 

Im Januar wird Jan in die Kita kommen, die von den beiden benachbarten Max-Planck-Instituten in Stuttgart-Büsnau betrieben wird. Sie ist mit 30 Kindern voll besetzt. Dann wird Uta Schlickum ihre Arbeitszeit wieder aufstocken, wenn auch nicht auf 100 Prozent. „Es gibt sehr viel Konkurrenz für sehr wenige feste Stellen“, sagt sie. „Da ist es schwierig, für längere Zeit die Arbeit zu unterbrechen.“ Ihre Gruppe, das sind vier Doktoranden und eine promovierte Nachwuchswissenschaftlerin. Sie arbeiten in zwei Labors an Rastertunnelmikroskopen, in denen sie einzelne Moleküle oder Atome auf unterschiedlichen Oberflächen untersuchen. Es geht darum, besser zu verstehen, was in elektronischen Bauteilen auf Plastikbasis geschieht. Die versprechen neue Möglichkeiten, sie sind im Unterschied zu herkömmlichen Bauteilen zum Beispiel biegbar, aber was genau geschieht, wenn Kunststoffmoleküle auf Stromleiter treffen, ist noch nicht wirklich geklärt.

Die Fachartikel werden vom Team geschrieben. Anders gehe es in der Experimentalphysik nicht mehr, sagt Uta Schlickum. „Niemand kann die Maschinen alleine bedienen.“ Im Team wird auch alles besprochen. Es gebe zwar eine wöchentliche Sitzung, erzählt die Teamleiterin, aber sie spreche jeden Mitarbeiter jeden Tag. Es könne so viel schiefgehen bei einem Experiment, da müsse man helfen und motivieren. „Man arbeitet am Limit der Instrumente, und man weiß vorher nicht, was herauskommen wird“, sagt sie.

„Man hat das Gefühl: man muss mehr, mehr, mehr leisten“

Auf dem Weg ins erste Labor ruft Uta Schlickum ihren Mann an, der ebenfalls eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung leitet. Er nimmt ihr Jan ab, damit sie ihren Sohn nicht ins Labor nehmen muss. Dort stehen Flaschen mit flüssigem Stickstoff, der minus 196 Grad kalt ist, und es hängen Starkstromkabel von der Decke. Das Mikroskop steckt in einer mannshohen Anlage, die in Alufolie eingepackt ist. Die Folie verteilt die Wärme gleichmäßiger, wenn die Anlage zu Beginn eines Experiments auf 120 Grad erhitzt wird. Dann verdampft das Wasser, das sich an den Wänden niederschlägt, wenn die Luft abgepumpt wird. Bei einem Luftdruck, der ein Zehnbillionstel des normalen Luftdrucks beträgt, fährt die Nadel des Rastertunnelmikroskops über einzelne Moleküle und misst beispielsweise den Strom, der durch die Moleküle fließt.

Manche Messungen dauern eine halbe Stunde, andere laufen lange. Die Regel lautet: man bleibt dabei und nimmt sich, wenn nötig, den folgenden Tag frei. Wenn die Maschine einmal richtig eingestellt ist und alle Fehler behoben sind, muss man die Gelegenheit nutzen, um den Versuch zu Ende zu bringen. Früher habe sie auch Tag und Nacht gemessen, erzählt Uta Schlickum, zu einer Doktorarbeit gehöre das dazu. Doch heute präparieren ihre Mitarbeiter die Proben, erhitzen die Apparatur und starten die Messung. „Ich bin im Labor, wenn etwas nicht funktioniert“, sagt sie. Hinter ihrer Arbeitsteilung steckt auch eine politische Forderung: Mütter und Väter müssen auch in der Wissenschaft eine Chance haben.

Uta Schlickum hat noch einen zweiten Sohn, Timo, der drei Jahre alt ist und in die Kita der Max-Planck-Institute geht. Ihre Familie hat sie gegründet, nachdem sie in das Emmy-Noether-Programm aufgenommen wurde. Damit gibt die Deutsche Forschungsgemeinschaft herausragenden Nachwuchsforschern die Möglichkeit, ein eigenes Team zu leiten und sich so für eine Professur zu qualifizieren. Benannt ist das Programm nach der deutschen Mathematikerin Emmy Noether, der man am Anfang des 20. Jahrhunderts die Professur verweigerte, weil sie eine Frau war. Uta Schlickum erhielt für fünf Jahre eine Stelle, die sich wegen der Kinderzeit verlängern wird. Für Nachwuchsforscher, die sonst oft Arbeitsverträge mit kurzer Laufzeit bekommen, ist das eine vergleichsweise komfortable Situation. Der Druck ist trotzdem spürbar, denn die Uhr tickt. „Man hat das Gefühl: man muss mehr, mehr, mehr leisten, bis man es eventuell auf eine Professur schafft“, sagt sie. Für die Lebensplanung sei es nicht in Ordnung, dass man erst mit 40 eine Chance auf eine feste Stelle hat.

Karriere ohne 60 Stunden in der Woche zu arbeiten?

Vor vier Jahren hat Uta Schlickum mit Kollegen im Emmy-Noether-Programm einen offenen Brief an die Forschungsminister und Hochschulrektoren geschrieben. Sie fordern darin, „die Elternschaft bei der vergleichenden Begutachtung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, zum Beispiel in Berufungsverfahren, zu berücksichtigen“. Von einer Reaktion hat Uta Schlickum nichts gehört. „Die Kinder brauchen Zeit, und die möchte ich ihnen auch geben“, sagt sie. Aber wenn es in einigen Jahren um eine Professur gehe, werde sie mit Kollegen verglichen, die 60 Stunden in der Woche gearbeitet haben. Es dürfe aber nicht allein um die Zahl der Fachartikel gehen, die man veröffentlicht habe. „Leistung ist Arbeit pro Zeit“, sagt sie. Man könnte auch sagen: es kommt ihr auf die Qualität der Arbeit an, also auf das, was man in der Arbeitszeit schafft – und wenn es nur 30 Stunden in der Woche sind.

Das zweite Labor ist in einem Neubau untergebracht, in einem grün gestrichenen Metallcontainer mit der Nummer 2. Das Rastertunnelmikroskop steht dort auf einem 100 Tonnen schweren Block, der selbst auf Stoßdämpfern steht, der ganze Raum ist vom Rest des Gebäudes abgekoppelt, damit sich keine Schwingungen übertragen. Wenn man die Tür schließt, ist es innen absolut still, aber jetzt arbeiten noch die Vakuumpumpen mit einem hellen Summen. „Don’t ever give up“, steht auf einem Schild – gib niemals auf.

Die Zeit drängt, denn Jan bekommt Hunger. Nach dem Stillen erzählt Uta Schlickum, dass sie ihren Mann schon im ersten Semester kennengelernt hat. Sie sind zusammen zur Promotion nach Halle an der Saale gegangen, später nach Lausanne und schließlich nach Stuttgart. Zusammen zu wohnen habe für sie oberste Priorität, sagt Uta Schlickum. „Bis jetzt hat es – mit Glück – sehr gut funktioniert.“ In der ganzen Zeit hätten sie darauf geachtet, an unterschiedlichen Themen zu arbeiten, damit ihre Leistungen getrennt bewertet werden können. Aber eigentlich sollte es ihrer Ansicht nach auch anders gehen. Schließlich gebe es viele Paare, die im selben Team forschen. Denn wo lernen sich Wissenschaftler wohl kennen, wenn sie 60 Stunden pro Woche im Labor verbringen?

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Serie
In einer StZ-Serie berichten drei junge Forscherinnen über ihren Arbeitsalltag. Am kommenden Montag porträtieren wir Claudia Scholl vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg.

Die Physikerin im Kurzporträt

Position
Seit 2010 Leiterin einer unabhängigen Forschergruppe am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart, gefördert durch das Emmy-Noether-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Alter
38 Jahre

Studium
Geophysik an der Universität Bochum. Anschließend Promotion am Max-Planck-Institut für Mikrostrukturphysik in Halle an der Saale. Die Doktorarbeit wird mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft für herausragende Promotionen von Wissenschaftlern unter 30 Jahren ausgezeichnet.

Qualifikation
Nach einigen Monaten als Postdoktorandin in Halle Wechsel an die ETH Lausanne im Jahr 2005.

Informationen
Die Max-Planck-Gesellschaft stellt in der Ausgabe 4/2013 ihres Magazins die Arbeit von Uta Schlickum und ihrer Kollegen in der Abteilung des Direktors Klaus Kern vor (Titel: „Quantenwelt im Kubus“). Ein PDF ist hier erhältlich: www.fkf.mpg.de/kern.

Ein typischer Arbeitstag von Uta Schlickum

8.30 Uhr
Uta Schlickums Mann bringt üblicherweise die beiden Söhne in die Kita. Der Morgen am Institut beginnt mit der Frage, ob dringende E-Mails zu beantworten sind. Dann geht es in die beiden Labors, um zu besprechen, wie die Versuche laufen. „Es gibt fast immer unerwartete Entwicklungen – positive wie negative“, sagt Uta Schlickum. Danach Schreibtischarbeit: vor allem Arbeit an den Manuskripten für Fachveröffentlichungen.

11.15 Uhr
Montags ein zweistündiges Gruppentreffen, auf dem die neuen Daten besprochen werden und entschieden wird, wie das Experiment fortgesetzt wird.

Aufgaben
Das Institut übernimmt einen Großteil der Verwaltungsarbeit, so dass viel Freiraum für die Forschung bleibt. Lehre wird nicht gefordert, doch Uta Schlickum hat mehrfach Veranstaltungen angeboten – zuletzt eine Vorlesung am Karlsruher Institut für Technologie.

Nachmittags
Nach Hause, Zeit für die Familie. Da Experimente unvorhersehbar sind, dürfen die Mitarbeiter Uta Schlickum rund um die Uhr anrufen, wenn sie Fragen haben.